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Mord am Oxford-Kanal

Mord am Oxford-Kanal

Titel: Mord am Oxford-Kanal
Autoren: Colin Dexter
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Widerstreben von einem Sanitäter die Treppe
hinunterhelfen. In Hausschuhen und einem frischen Schlafanzug, eine kratzige
graue Decke um die Schultern, saß er etwas verloren auf der Pritsche des Krankenwagens.
Die Krankenschwester, eine Frau mittleren Alters, schien seine Weigerung, sich
hinzulegen, als persönlichen Affront aufgefaßt zu haben. Mürrisch, ohne ein
Wort zu sagen, schob sie ihm, als er sich geräuschvoll übergeben mußte, eine
weiße, emaillierte Nierenschale auf den Schoß und schwieg auch noch, als der
Krankenwagen auf das Gelände des John-Radcliffe-Krankenhauses einbog und
schließlich vor der Notfall-Ambulanz anhielt.
    Während Morse, ausgestreckt auf
einer Krankenbahre liegend, auf einen Arzt wartete, dachte er in einem Anflug
von Selbstmitleid, daß er hier auf diesem Flur sterben könnte, ohne daß dies
irgend jemandem auffiele. Er war eben schon immer ungeduldig gewesen (vor allen
Dingen in Hotels, wenn morgens das Frühstück nicht gleich kam), und vielleicht
hatte es ja in Wirklichkeit nur einige wenige Minuten gedauert, bis ein
weißgekleideter Krankenhausangestellter neben ihm auftauchte und begann, in
aller Ruhe mit ihm den Aufnahmebogen durchzugehen. Morse mußte Auskunft geben
über seine nächsten Angehörigen (in seinem Fall nicht vorhanden) sowie seine
Konfession (ebenfalls nicht vorhanden). Nachdem solchermaßen die
Initiationsriten vollzogen und er gleichsam in den Club aufgenommen worden war,
begann man sich um ihn zu kümmern. Von irgendwoher erschien eine junge
Schwester, fühlte ihm den Puls, maß seinen Blutdruck (wobei sie, wie Morse
fand, den schwarzen Gummiriemen um seinen Oberarm sehr viel fester als nötig
anzog) und trug die Ergebnisse mit einem Gleichmut in sein Krankenblatt ein,
der den Gedanken nahelegte, daß nur ausgesprochen dramatische Abweichungen von
der Norm Grund zur Besorgnis sein könnten. Zum Schluß wollte sie auch noch
seine Temperatur messen, und Morse kam sich einigermaßen idiotisch vor, wie er
so dalag und das Thermometer ihm aus dem Mund ragte. Die Schwester schien mit
dem Ergebnis der Messung offenbar unzufrieden, sie schüttelte das Thermometer
einige Male mit einer Bewegung, nicht unähnlich einem Rückhandschlag beim
Pingpong, um es ihm schließlich, kaum weniger geschickt als beim erstenmal,
noch einmal unter die Zunge zu zwängen.
    «Werde ich überleben?» wagte
Morse einen Vorstoß, während die Schwester die Ergebnisse der Messung auf sein
Krankenblatt übertrug.
    «Sie haben Temperatur», war die
nichtssagende Antwort.
    «Ich dachte, jeder Mensch hätte
Temperatur», murmelte Morse.
    Doch da hatte die Schwester ihm
schon den Rücken zugewandt, um einen Neuzugang in Augenschein zu nehmen.
    Der junge Mann, den man gerade
hereingerollt hatte, trug noch sein schwarz-rot gestreiftes Rugby-Trikot. Seine
nackten Beine waren dreckverkrustet, und quer über seine Stirn klaffte eine
scheußlich aussehende, riesige Wunde. Morse kam er dennoch ganz entspannt vor,
als er dem Krankenhausangestellten (derselbe, der auch Morse befragt hatte) bereitwillig
Auskunft gab über Lebensgeschichte, Konfession und Verwandte. Genauso entspannt
ließ er es über sich ergehen, als die Schwester ihm mit dem Stethoskop zu Leibe
rückte, den Puls fühlte und seine Temperatur maß. Morse merkte plötzlich, wie
er neidisch wurde auf die selbstverständliche Vertrautheit zwischen dem
Burschen und der jungen Schwester. Und plötzlich — und diese Erkenntnis traf
ihn wie ein Schlag — realisierte er, daß die Schwester ihn vermutlich genau als
das sah, was er ja auch tatsächlich war: einen Mann, der recht und schlecht ins
sechste Lebensjahrzehnt getreten war und sich nun den leicht entwürdigenden
Krankheiten des beginnenden Alters gegenübersah: Leistenbruch, Hämorrhoiden,
Prostatabeschwerden und, ja!, Zwölffingerdarmgeschwüren.
    Morse beugte sich gerade, von
einem heftigen Würgereiz gepackt, über die Nierenschale, die sie
vorsichtshalber in Reichweite hatten stehenlassen, als ein junger
Medizinalassistent, ungefähr halb so alt wie Morse, neben ihn trat und den
Bericht über seine Einlieferung, den Fragebogen des Krankenhauses und sein
Krankenblatt zu überfliegen begann.
    «Eine ziemlich üble Geschichte,
Ihre Bauchbeschwerden, ist Ihnen das klar?»
    Morse zuckte ausweichend die
Achseln.«Mir hat bisher niemand etwas gesagt.»
    «Das muß Ihnen wohl doch nicht
extra gesagt werden, daß da etwas nicht stimmt, ganz und gar nicht stimmt.»
    Morse wollte gerade
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