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Monströse Welten 1: Gras

Monströse Welten 1: Gras

Titel: Monströse Welten 1: Gras
Autoren: Sheri S. Tepper
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aufhören, mir Vorschriften zu machen?« rief Dimity plötzlich, wobei ihr die Tränen über die Wangen strömten. »Die eine Hälfte der Familie sagt, ich müßte noch nicht mitreiten, und die andere Hälfte sagt, ich wäre schon soweit.«
    Betroffen verstummte Sylvan, blieb stehen und war plötzlich wie verwandelt. Er liebte sie, die kleinste Schwester. Er war es gewesen, der sie zuerst Dimity genannt hatte, der sie gehalten hatte, als sie an einer Kolik litt, der sie auf die Schulter genommen und mit ihr die Korridore von Klive auf und ab gegangen war, der dreizehnjährige Junge, der das Kleinkind liebevoll im Arm gehalten hatte. Heute empfand der mittlerweile Achtundzwanzigjährige noch genauso für das nun fünfzehnjährige Mädchen; er sah in ihr noch immer das kleine Kind, das sie damals gewesen war. »Was möchtest du denn?« fragte er sie mit sanfter Stimme und berührte ihre schweißbedeckte Stirn unter der Kappe. Mit dem straff zurückgekämmten und im Nacken zu einem Knoten gebundenen Haar wirkte sie wie ein verängstigter kleiner Junge. »Was möchtest du denn am liebsten tun, Dim?«
    »Ich bin hungrig und durstig und müde. Ich möchte zurück ins Haus gehen, frühstücken und mich auf den Sprachunterricht für diese Woche vorbereiten«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich möchte auf den Sommerball gehen und mit Jason bon Haunser flirten. Ich möchte ein schönes heißes Bad nehmen und mich dann in den Rosengras-Hof setzen und die Kolibris beobachten.«
    »Na schön«, wollte er schon sagen, als er vom verhaltenen Tawa, tawa des Jagdhorns neben dem Hundetor unterbrochen wurde. Das Signal war gerade so laut, um die Aufmerksamkeit der Reiter zu erregen, ohne daß indessen die Hunde nervös wurden. »Die Hunde«, flüsterte er und wandte sich um. »Mein Gott, Dim, jetzt ist es zu spät.«
    Er verstummte und entfernte sich stolpernd von den Mädchen. Überall erstarben die Gespräche, und Schweigen legte sich über die Szene. Die Gesichter wurden ausdruckslos und leer. Die Blicke wurden starr. Dimity schaute sich um und sah, daß die anderen sich anschickten, zu den Hunden hinüberzureiten. Ein Schauder durchfuhr sie. Der Blick ihres Vaters streifte sie wie ein kalter Windhauch, ohne daß er sie indessen wahrgenommen hätte. Sogar Emmy und Amy wirkten nun völlig unnahbar. Nur Sylvan, der sie von seinem Platz inmitten der Gefährten ansah, schien sie überhaupt noch zu bemerken.
    Nun formierten die Reiter sich auf der Ersten Fläche, wobei die erfahrenen Reiter sich entlang der westlichen Tangente des Kreises und die jüngeren an der östlichen gruppierten. Beim Klang des Horns hatten die Diener sich zu Boden geworfen, so daß nun scheinbar eine Vielzahl weißer Blüten im grauen Gras sproß. Dimity stand nun fast ganz allein am östlichen Rand des Kreises und schaute zu dem Pfad hinüber, der zu einem massiven Tor in der Mauer der Estancia führte. »Beobachte das Hundetor«, sagte sie zu sich selbst. »Beobachte das Hundetor.«
    Alle beobachteten das Hundetor, das sich langsam öffnete. Paarweise kamen die Hunde zum Vorschein, mit Schlappohren und mit elfenbeinfarbenen Reißzähnen bewehrten Mäulern, aus denen hechelnde Zungen hingen; die Schwänze waren angelegt. Sie liefen den Hundeweg entlang, einen breiten, mit niedrigem und gemustertem Samtgras bewachsenen Pfad, der dem Umfang der Ersten Fläche folgte, dann in westlicher Richtung durch das Hundetor in der gegenüberliegenden Mauer verschwand und in die größeren Außengärten mündete. Während die Hunde sich paarweise der Ersten Fläche näherten, nahmen sie eine zweireihige Formation ein, wobei sie die Jäger umkreisten und sie mit blutunterlaufenen, wie Kohle glühenden Augen musterten; dann vereinigten die beiden Reihen sich und hielten in derselben Marschordnung wie bisher auf das Jagdtor zu.
    Dimity empfand diese glühenden Augen wie einen Schlag. Sie schaute auf ihre Hände, knetete sie so heftig, daß die Knöchel weiß hervortraten und versuchte, alle Gedanken zu verdrängen.
    Als das letzte Hundepaar sich vereinigt hatte und die Jäger sich hinter ihnen in Bewegung setzten, verließ Sylvan seinen Platz, lief zu ihr herüber und flüsterte ihr ins Ohr: »Bleib einfach hier, Dim. Es wird sich niemand umdrehen. Sie werden es erst nach der Rückkehr erfahren. Bleib einfach hier.«
    Dimity schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war leichenblaß, und in den großen dunklen Augen stand eine Angst, die sie sich nun zum erstenmal selbst
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