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Monströse Welten 1: Gras

Monströse Welten 1: Gras

Titel: Monströse Welten 1: Gras
Autoren: Sheri S. Tepper
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Tod, weil er mich von allen Pflichten befreit hätte. Da war ich nun kaum vierzig Terra-Jahre alt und freute mich auf den Tod, der mich von dieser Last erlöst hätte! Also bin ich eines Tages hinaus ins Grasland gegangen, um dort den Tod zu finden. Was sich mir dort anbot, war auch eine Art von Tod, die geistige Versklavung, und diese schreckliche Vorstellung brachte mich wieder zur Besinnung.
Schlichte Pflichterfüllung war einfach nicht genug. Es mußte noch mehr geben als das!
Vater James wies mich auf die Möglichkeit hin, daß womöglich ein Virus existierte. Heute weiß ich, daß das nur ein Scherz sein sollte. Er hält mich für humorlos. Ich mich selbst auch. Alle halten mich für humorlos, sogar Tony. Aus diesem Grund nahm ich seine Worte auch für bare Münze. Später verglich ich die Menschen dann mit weißen Blutkörperchen und Neurotransmittern, mit Preßzellen und Botenstoffen. Solche Zellen erfüllen im Körper, dessen Bestandteile sie sind, einen Zweck oder zumindest eine Funktion. Die Evolution hat ihnen diese Funktionen zugewiesen. Also erfüllen auch wir in dem Körper, den wir bewohnen, einen ähnlichen Zweck oder eine ähnliche Funktion, obwohl wir in meinen Augen nur Sehr Kleine Entitäten sind…
     
    Oben in den Bäumen führte Vater James eine erregte Diskussion mit den Füchsen. Wo er nun Leiter einer offiziellen Mission zu den Füchsen war, führte er öfter solche Diskussionen und versuchte, schwache Argumente durch eine erhobene Stimme auszugleichen. Kürzlich hatten sie Sünden des Fleisches erörtert, wobei er die Stimme sehr oft erhoben hatte. Die Füchse glaubten nämlich nicht an fleischliche Sünden, und sie brachten den Priester in Verlegenheit, indem sie Passagen aus der Schrift zitierten, die er ihnen gegenüber früher selbst zitiert hatte.
    Auf der Weide sagte einer von Rillibees bunten Papageien am laufenden Band dieselbe Litanei auf: ›Songbird Chime. Joshua Chime. Miriam Chime. Stella…‹
    Marjorie widmete sich wieder der Schreibarbeit.
     
Als die Menschen sich noch für die einzige intelligente Rasse hielten und die Erde ihr einziger Lebensraum darstellte, war die Ansicht vielleicht zu vertreten, daß jeder Mensch eine Bedeutung hatte. Wir waren der Nabel der Welt. Wie Frösche ihren Teich für den Mittelpunkt des Universums halten, so glaubten auch wir, daß Gott sich um jeden einzelnen von uns kümmern würde. Seltsam, daß wir Stolz als Sünde betrachten, eine solche Arroganz aber noch nicht.
Dabei hätten wir uns bloß einmal umschauen müssen, um die Absurdität dieser Einstellung zu erkennen. Wo war der Bauer, der jedes einzelne Saatkorn beim Namen kannte? Wo war der Imker, der seinen Bienen Namensschildchen umhängte? Wo war der Schäfer, der jeden Grashalm auseinanderhielt? Was sind wir denn, verglichen mit dem Umfang der Schöpfung, wenn nicht Sehr Kleine Entitäten, nicht bedeutender als ein Saatkorn, eine Biene oder ein Grashalm?
Und doch wird aus Getreide Brot; Bienen geben Honig; Gras dient als Nahrung oder zur Gestaltung von Gärten. Sehr Kleine Entitäten sind durchaus wichtig, aber nicht als Individuen, sondern wegen ihres Potentials…
Die Arbai sind gescheitert, weil sie dieses Potential nicht genutzt haben. Die Menschheit wäre fast gescheitert. Erst als wir Terra heruntergewirtschaftet hatten und vor der Wahl standen, unterzugehen oder zu überleben, sind wir zu neuen Ufern aufgebrochen. Als wir dann endlich neue Welten entdeckt hatten, ließen wir uns von Heiligkeit an die Kandare nehmen. ›Besiedelt die Welten‹, hieß es. ›Sucht nicht weiter. Geht keine Risiken ein.‹ Und wir haben nicht weitergesucht. Wir haben uns vermehrt. Aber wir haben nicht…
     
    Hinter ihr ertönte ein Trillern. Auch ohne daß sie sich umdrehte, wußte sie, wer es war. Er berührte ihren Hals so zart wie ein fallendes Blatt. Die Kralle war kaum ausgefahren; sie spürte nur ein winziges Pieksen.
    »Jetzt?« fragte sie atemlos.
    Er stellte die Tasche neben ihr auf den Boden.
    Sie war unschlüssig. »Ich habe mich noch nicht von Tony und Stella verabschiedet!«
    Schweigen.
    Sie hatte sich bereits verabschiedet. Jede Stunde der letzten Jahreszeit war ein Abschied gewesen. Vater James hatte ihr erst an diesem Morgen seinen Segen gegeben. Es war alles gesagt. Er berührte sie erneut.
    »Ich muß das erst noch beenden«, sagte sie und beugte sich über den Tisch.
     
… wir haben unser Potential nicht genutzt. Wir haben uns nicht verändert.
Aber wir müssen uns ändern.
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