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Monströs (German Edition)

Monströs (German Edition)

Titel: Monströs (German Edition)
Autoren: Chris Karlden
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habe zwar nie verstanden, warum du aufgehört hast. Aber ich hätte mich daran gehalten. Ich hätte dich in Ruhe gelassen. Doch es geht nicht anders. Du bist der Einzige, der mir helfen kann. Alles Weitere, wenn du da bist. Du musst dich jetzt beeilen. Die Zeit wird knapp.«
    Er war unschlüssig und schwieg. Sein Bruder klang nervös. Das passte nicht zu ihm. Er griff die Thermoskanne auf dem Küchentisch und goss sich eine Tasse von dem Kaffee ein, den seine Frau, wie jeden Tag von ihrem Frühstück übrig gelassen hatte.
    »Nein«, sagte er dann.
    Für ein paar Sekunden herrschte ungläubiges Schweigen in der Leitung. Dann:
    »Warum glaubst du, rufe ich an?«
    Sein Bruder erwartete keine Antwort. Er machte, bevor er fortfuhr, nur eine winzige Pause, um die Wirkung der folgenden Worte zu verstärken.
    »Du bist die einzige Person, die mich retten kann. Nur du, niemand sonst. Mit anderen Worten, wenn du nein sagst, wenn du dich nicht augenblicklich auf den Weg machst, sterbe ich!«
    Die Aussage war eindeutig und doch konnte er nicht daran glauben. Sein Bruder war immer derjenige gewesen, der austeilte. Jetzt steckte er offenbar in der Klemme. Aber was sollte das, warum konnte nur er ihm helfen, nach all den Jahren? Und wenn es so war, musste er dann nicht über seinen Schatten springen, das Risiko eines Rückfalls eingehen und seinem Bruder helfen. Auch wenn ihn das hier nur allzu sehr an früher erinnerte, als sein Bruder nur zu rufen brauchte und er zur Stelle war. Doch eines war klar, wenn es hart auf hart gekommen war, hatte sein Bruder ihn auch nie hängen lassen. Verdammt, er wollte nicht zurück. Er hatte jetzt ein anderes Leben.
    »Ich bin dein Bruder. Hilfst du mir jetzt oder nicht?« Diesmal klang die Stimme ungewohnt freundlich, fast schon Mitleid erregend. Er wunderte sich immer wieder aufs Neue, dass er zur Wahrnehmung solcher Feinheiten in der Lage war, seit er regelmäßig die Medikamente nahm.
    »Was ist jetzt, ich habe keine Zeit mehr«, drängte sein Bruder weiter.
    Ich habe keine Zeit mehr. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, in was für eine Geschichte sein Bruder da hineingeraten war. Das alles klang mehr als seltsam und aus dem Wenigen, was sein Bruder erzählt hatte, konnte er nicht einmal erahnen, worum es ging. Was also sollte er tun? Jeden anderen hätte er zum Teufel gejagt, aber das hier war nun mal sein Bruder.
    »Du hast doch genug Leute, warum ausgerechnet ich?«, fragte er.
    »Nicht am Telefon.«
    Es war elf Uhr morgens. Er war erst vor zehn Minuten aufgestanden. Die Nachtschicht saß ihm noch in den Knochen. Er trank einen Schluck Kaffee und nahm dazu seine Morgentablette, die Sarah ihm auf den Tisch gelegt hatte. Der Kaffee war nicht mehr richtig heiß. Aber er tat seinen Dienst. Er glaubte seinem Bruder, wenn es nicht ernst wäre, hätte er ihn nicht angerufen.
    Er atmete tief durch und schloss die Augen. Dann gab er sich einen Ruck und traf eine Entscheidung.
    »Also gut. In zwei Stunden bin ich bei dir.«
    Am anderen Ende der Leitung wurde einfach aufgelegt.
     

2
     
    Er tippte die Nummer seiner Frau in das Tastenfeld des Telefons. Sarah hatte einen Halbtagsjob in der Buchhaltung der gleichen Spedition, in der er als Nachtwächter arbeitete, und würde um halb eins Feierabend haben. Mit den beiden Minigehältern kamen sie über die Runden. Sie brauchten keinen Luxus und Kinder hatten sie auch keine.
    Er erzählte ihr, dass er spontan noch einem Kollegen, der ihn gerade angerufen habe, beim Tapezieren helfen wollte. Er wäre also nicht da, wenn sie nach Hause käme. Sie solle auch mit dem Abendessen nicht auf ihn warten.
    Er hatte Sarah nie erzählt, dass er einen Bruder hatte. Sie wusste so vieles nicht. Auch Raphael war sie nie begegnet. Vielleicht war sie gerade deshalb das Beste, was ihm je im Leben passiert war.
    Er startete den Wagen und fuhr los. Während er sich Frankfurt näherte, spürte er zum ersten Mal seit Jahren wieder die Kälte in seinem Körper. Er musste zugeben, dass er sie vermisst hatte. Sie breitete sich mit jedem Kilometer, den er zurück in sein altes Leben fuhr, weiter in ihm aus, und als er vor dem Mietshaus, in dem sein Bruder wohnte, parkte, hatte er das Gefühl, nie weg gewesen zu sein.
    Es machte ihm Angst. Er tat genau das, was sein Therapeut ihm strengstens verboten hatte. Er konfrontierte sich wieder damit. Aber was sollte er tun? Es ging um seinen Bruder, seinen einzigen noch lebenden Verwandten, dessen Leben dem Telefonat
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