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Monster (German Edition)

Monster (German Edition)

Titel: Monster (German Edition)
Autoren: Benjamin Maack
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hingespritzt?«
    »Ein Tropfen. Auf seine Zunge.« Kathrin zeigt mit den großen gelben Handschuhen auf Benjamins offenen Mund.
    Der Vater zieht seine Arbeitshandschuhe aus, mit schwieligen Fingern drückt er die Zähne des Jungen auseinander und wirft einen Blick hinein. Zwei Tränen laufen über das Gesicht mit den Fingern im Mund, eine links, die andere rechts die Wangen herunter und treffen sich am Kinn.
    »Das tut mir leid, Benjamin«, sagt der Vater, er sieht den Jungen ernst an, »wahrscheinlich musst du jetzt sterben.«
    »Was muss er?«, kreischt Kathrin.
    »Du gehst jetzt besser nach Hause. Und du kommst mit, junge Dame.«
    Ohne Benjamin noch einmal anzuschauen, packt Kathrins Vater seine Tochter an den Latzhosenträgern und zerrt sie ins Haus.
    »Aber Benjamin ...« Die Tür fällt ins Schloss und es ist still. Der Junge steht plötzlich allein da. Ein paar Sekunden steht er nur so da und wartet, schaut dumpf auf das frisch geschnittene Gras vor seinen Füßen und wartet, dass er stirbt.
    Fast ist er ein bisschen gespannt.
    Er fühlt ein Kribbeln in seinen Händen und Füßen, als würde es schon losgehen.
    Aber seine Eltern. Die wären bestimmt sauer, wenn er einfach hier auf dem Rasen vor dem Haus von Kathrins Eltern sterben würde.
    Er fängt an zu rennen. Unter seinen Füßen das Gras, dann die feste Erde auf der Einfahrt, dann der Staub des Fahrradweges. Er rennt nach Hause, um seinen Eltern zu sagen, dass er gleich tot ist. Da fällt ihm ein, dass er sein Rad vergessen hat. Er will nicht, dass seine Eltern fragen, wo denn sein Fahrrad ist, wenn er ihnen etwas so Wichtiges zu sagen hat. Benjamin läuft zurück zu Kathrins Haus.
    »Benjamin!«
    Kathrin hat verheulte Augen, sandigen Schnodder unter der Nase.
    »Streck deine Zunge raus!«
    Sie kreischt ihn an.
    Er streckt seine Zunge raus.
    »Noch weiter!«
    Sie kreischt, obwohl sein Gesicht jetzt direkt vor ihrem ist.
    Er streckt seine Zunge noch weiter raus.
    Kathrins Gesicht kommt noch näher.
    Dann drückt sie ihre Zunge fest gegen seine.
    »So«, sagt sie, »wenn du stirbst, muss ich auch sterben.«
     
    Ein Schlüssel dreht sich im Schloss, eine Runde, zwei Runden, ein Schnappschloss schnappt, eine Türkette klappert. Die Tür öffnet sich einen Spalt.
    »Wer ist da?«, fragt Kathrin.
    »Ich.«
    »Wer?«
    »Ich.«
    »Benjamin?«
    »Ja.«
    »Wir schlafen schon. Komm rein.«
     
    Kathrin hat einen Becher auf den Küchentisch gestellt. In einem großen Frotteebademantel steht sie an der Anrichte und schüttet Kaffee in einen Papierfilter.
    »Was machst du hier?«
    »Ich dachte, ich komme dich mal besuchen.«
    Sie nimmt einen Becher aus einem der Schränke und stellt ihn wieder zurück, klappert in der Geschirrschublade, dann dreht sie sich um.
    »Ich verstehe das nicht«, sagt sie, »wir haben Ewigkeiten nichts von dir gehört. Hast du meine Briefe nicht gekriegt?«
    »Doch. Alle. Wo ist denn Stephan?«
    »Er hat schon seine Medikamente bekommen.«
    »Tut mir leid, dass ich mich nie gemeldet habe. Aber jetzt habe ich frei. Ich wollte euch sehen. Was ihr so macht. Wenn ich darf, würde ich gern ein paar Tage bleiben.«
    »Wir haben kein Gästezimmer, nur Stephans alten Raum oben. Er schafft die Treppe nicht mehr.«
     
    Die Matratze des weiß gelackten Krankenhausbettes ist aus medizinischen Gründen hart. Der Mond lässt die Holzbalken unter der Decke lange schwarze Schatten werfen. Draußen geht der Wind durch die Bäume, es raschelt in den Wänden. Das Gebälk des alten Hauses arbeitet. Bilder rauschen ihm durch den Kopf. Die Stadt, aus der er weg ist. Die letzten Tage im Labor. Kathrin im Bademantel. Die Eule im Kofferraum. Alles vermischt sich. Benjamin ist schrecklich müde, endlos erschöpft. Alles vermischt sich, alles wird eins.
    Mitten in der Nacht wecken ihn Geräusche auf dem Flur. Dumpfe Schläge. Eine lange Pause zwischen jedem Laut, als falle etwas unendlich langsam die Treppe hinunter.
    Dum.
    Dum.
    Dum.
    Jetzt ist es im Haus, denkt Benjamin plötzlich.
    Die Beine an den Körper gezogen, die Decke bis unter das Kinn. So wartet er, dass die Tür sich öffnet und etwas Kaltes ihn am Fuß packt.
     
    2
    Hinter dem Haus hebt sich ein Berg. Dicht bewaldet. Ein Rücken aus Buchen, ein paar Fichten. Stämme, Laub, Gräser, Moosgrund, mehr zu erahnen als zu erkennen. Schlierig ineinanderlaufende Braun- und Grüntöne. Eine unscharfe, verwischte, verwucherte Masse. Und in der Mitte das Haus, Kathrins und Stephans Haus. Grau verputzte Fassade, das
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