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Mondgeschöpfe (Phobos)

Mondgeschöpfe (Phobos)

Titel: Mondgeschöpfe (Phobos)
Autoren: Michael Schuck
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dem sie vor zwei Monaten tapfer entronnen war, als sie sich von Ragnos getrennt hatte.
    Sie hatten sich einen Kurzurlaub auf Teneriffa gegönnt. Ein glückliches Paar in dem freundlichen Puerto de la Cruz. Am kleinen Hafen bereitete ein junger Fischer seinen frischen Fang zu. Wie von einem Magneten angezogen näherte sich Ragnos dem Stand. Und er konnte seine Augen nicht abwenden. Während Herwe angeekelt ihren Blick abwandte, sog Ragnos das Töten und Ausnehmen der Fische, der Krebse und der Tintenfische in sich hinein. Und die ganze Zeit hielt er Herwes Hand schraubstockartig umklammert.
    Erst als der Fischer seinen Stand abzuwaschen begann, ließ Ragnos Herwes Hand los und fragte: "Sollen wir noch ein bisschen durch die Stadt stromern?" - was Herwe sehr begrüßte.
    Aber Ragnos steuerte zielsicher an den Einkaufszonen vorbei die heruntergekommenen Häuser im Nordosten Puertos an. Beißende Gerüche lagen über den Straßen. Kaum ein Mensch war zu sehen. Ab und zu öffnete sich knarrend eine schmale Tür und eine schwarze, vom Alter gebückte Gestalt überquerte schwankend das aufgerissene Straßenpflaster. Die Sonne strahlte gnadenlos. Die Stille der Siesta lag über den Häusern. Aber es war mehr als eine Siesta, eine Agonie, eine Lähmung.
    Herwe musste an Tschernobyl denken. Nach der Reaktorkatastrophe waren der Ort und die ganze Umgebung entvölkert worden. Aber schon nach zwei drei Jahren waren die Alten heimlich und in der Nacht zurückgekommen. Sie hatten sich geweigert, ihre Heimat aufzugeben.
    Auch hier schienen nur noch die Alten zu leben.
    Am südlichen Rand des Zentrums stießen sie auf einen Vulkankegel. Ein riesiger Aschenberg. Obenauf, gegen die Helligkeit des Himmels nur mit tränenden Augen zu sehen, ein Hotelkomplex, offenbar unfertig und verlassen.
    Wie sich später herausstellte, handelte es sich um eine typische Bauruine. Das Gebäude war vorschnell und ohne intensive Prüfung auf dem Aschenhügel errichtet worden. Es begann schon nach kurzer Zeit deutlich abzusacken, so dass ein Weiterbau nicht mehr zu verantworten war. Allerdings war auch ein Abriss nicht mehr finanzierbar.
    Ragnos war wie versteinert am Fuße des Hügels stehen geblieben. Er war trotz Herwes Bemühungen nicht willens oder auch nicht in der Lage gewesen, weiter zu gehen oder auch nur den Blick von dem Bauwerk loszureißen.
    Die breite Zufahrt war mit einer Barriere und einem verrosteten "Durchfahrt-Verboten" Schild versperrt. Was einstmals eine ausladende Palmenallee hatte werden sollen, bröckelte jetzt unter ihren Füßen, als sie Hand in Hand zum Hotel hinaufgingen. Vertrocknete Schösslinge flankierten rechts und links ihren Weg. Von Bäumen eingefasst, oberflächlich besehen immer noch malerisch, erhob sich vor ihnen der rechtwinkelig angelegte Hotelkomplex, riesig in seinem Ausmaßen.
    Herwe und Ragnos betraten den Innenhof. Hier war kein Laut mehr zu hören: Keine Vögel, kein Hundegebell, keine Kinderstimmen, kein kräftiges Männergebrüll, keine Autos: Absolute Stille. Die Klänge der Stadt wurden an einer unsichtbaren Barriere gestoppt. Ragnos ließ Herwe los und betrat das Hotel durch den Haupteingang. Herwe blieb im Eingang stehen und sah Ragnos die breite, geländerlose Treppe hinaufsteigen.
    "Ragnos!", rief sie. "Ich möchte da nicht hinauf."
    "Ist okay", rief er zurück. "Warte unten auf mich. Ich muss mir das ansehen."
    "Was musst du dir ansehen?"
    "Ich will sehen, ob man von oben die Risse im Berg sehen kann."
    "Das sieht aber alles so brüchig aus."
    "Nein, Nein! Keine Angst! Das täuscht."
    Seine Stimme wurde immer leiser, je höher er stieg. Herwe zuckte die Schultern. Andere Manager klettern auf vereiste Berge, andere werfen sich aus Flugzeugen, natürlich mit Fallschirmen. Ragnos hatte eben Lust auf Ruinen herumzuklettern. Herwe wurde wütend: Warum konnte er keine Lust entwickeln, einen Säugling zu wickeln? Vielleicht bekäme sie dann endlich auch Lust einen zu bekommen.
    Sie drehte sich unwirsch um und betrat wieder den Innenhof. Im Vergleich zu anderen Hotels war diese Ruine gar nicht so furchtbar hoch mit ihren sechs Stockwerken. Offenbar hatte man schnell gemerkt, dass das Bauwerk zu schwer wurde. Sonst hätten sie sicher noch paar Stockwerke daraufgesetzt.
    Herwe trat in die Mitte des Innenhofes, und die Stille hüllte sie ein wie der noch warme, frisch gesponnene Kokon einer Riesenspinne.
    Von Ragnos war nichts zu sehen. Die Wolken vor dem Haupt seiner Majestät, des Pico del Teide, hatten sich
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