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Mitternachtsflut

Mitternachtsflut

Titel: Mitternachtsflut
Autoren: Gabriele Ketterl
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Wussten Sie, dass er einer der letzten wirklichen Nachkommen der Guanchen hier auf der Insel war?“
    „Ja, das hat er – denke ich - einmal erwähnt.“ Marie konnte kaum sprechen. Ihr Hals war wie zugeschnürt. „Aber dass er grob vier Millionen Euro besessen hat, das hat er verschwiegen, stimmts?“ Die Tränen drängten sich in Maries Augen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. „Ich würde das alles gerne ins Meer werfen, wenn er dafür wieder lebendig würde.“ Don Jaime tätschelte tröstend ihre Hand. „Sie waren die Tochter die er nie hatte, Marie. Er wollte, dass Sie Ihren Anteil haben, der Rest gehört seinem Neffen. Ein sehr freundlicher und netter junger Mann. Wir haben ihn auf Lanzarote ausfindig gemacht. Er kam heute Mittag mit der Fähre hier an. Carlos zeigt ihm gerade das Haus und lässt ihn die ganzen Papiere unterschreiben.“
    Also würde sie nun doch damit leben müssen, dass Manolos Haus wieder bewohnt war. Marie war vollkommen durcheinander, sie würde diesem Neffen ihren Anteil verkaufen. Mit einem Fremden hier leben – nein, das konnte sie nicht. In diesem Augenblick ertönte Carlos' tiefe Bassstimme und er verließ mit diversen Dokumenten in den Händen das Haus. Hinter ihm trat ein junger Mann aus dem Haus.
    Er war groß, ebenso groß wie Manolo es gewesen war. Dichte lange Haare in einem warmen Honigblond fielen über seine Schultern. Vereinzelt waren darin dunkle Strähnen. Aus seinem Gesicht leuchteten blaue Augen, denen es gelang in der Dunkelheit zu leuchten. Marie unterdrückte den Schrei, der in ihrer Kehle hochstieg, mit schier übermenschlicher Kraft. Es gelang ihr sogar mit Don Jaime aufzustehen und auf ihn zuzugehen. Der Commandante stellte ihr den Mann vor. „Marie, darf ich Ihnen Miguel Angel Valido vorstellen? Miguel ist Manolos Neffe.“
    „Guten Abend Senorita Marie. Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen!“ Seine warme, weiche Stimme schaffte es, sie zu erden, schaffte es, zu verhindern, dass sie zusammenbrach. Im Nachhinein konnte sie nicht mehr mit Gewissheit sagen, woher sie all die Kraft genommen hatte, die sie in jenem Moment auf den Beinen gehalten hatte.
    Kurz darauf verabschiedeten sich Don Jaime und Carlos. Marie und Miguel blieben alleine zurück. Trotz aller Überraschung und Verwirrung war Marie sich dessen wohl bewusst, dass gerade in diesem Moment zahllose neugierige Augenpaare durch die Blumenrabatten auf sie gerichtet waren. Miguel reagierte sehr ruhig. „Marie, ich muss mich verabschieden. Ich ziehe mich jetzt zurück, es war ein überaus ereignisreicher Tag. Es würde mich sehr freuen, Sie morgen zum Frühstück einladen zu dürfen.“ Ehe Marie ein „Ja, sehr gerne“ stammeln konnte, war Miguel bereits verschwunden. Was sollte das denn nun? Er konnte doch nicht...? Oh doch, er konnte. Marie stolperte in ihr Haus. Mit zitternden Knien lief sie zu ihrem Sofa und hier verließ sie das letzte Quentchen Kraft, das ihren Körper bis jetzt aufrecht gehalten hatte. Sie verkroch sich in die hinterste Ecke, zog die Knie an den Körper und ließ den Tränen freien Lauf.
    „Marie, nicht, bitte wein doch nicht. Marie, alles ist gut. Bitte sieh mich an.“ Als Marie ihren Blick hob, sah sie in diese einzigartigen funkelnden blauen Augen und sie sahen sie mit so viel Liebe an, dass sogar ihre Tränen versiegten. Fast fürchtete sie sich davor, ihn zu berühren, aus Angst er könnte wieder verschwinden. Aber er war es, der die Hände nach ihr ausstreckte und sie in seine Arme zog. Erst als ihr Kopf an seiner Brust lag und er sie liebevoll streichelte, wagte sie wieder normal zu atmen. Fragend sah sie zu ihm auf. „Miguelangel, wie??“ Er sah sie lange an und eine Spur Trauer huschte über sein Gesicht. „In der Nacht der letzten Mitternachtsflut, hat Manolo seinen Teil des Schwures erfüllt. Ein Leben für ein Leben, eine Seele für eine Seele. So lautete die Abmachung. Als Manolo seine Seele im Meer zu den Ahnen sandte, war meine frei und ich bekam meinen Körper und mein Leben zurück.“
    „Dann ist Manolo für dich gestorben?“ Miguel schüttelte mit leisem Lächeln den Kopf. „Nein, mein Leben, er ist für uns gestorben. Er wusste von Anfang an, dass du es warst, dass du zurückgekehrt warst. Dafür hat er so lange gelebt, dafür hat er zuerst nur über mich und dann über uns beide gewacht.“ „Aber es ist so unendlich traurig, dass er tot ist, er fehlt mir!“ „Nein Marie, du musst das anders sehen. Bitte gönn ihm seine Ruhe. Er ist
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