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Mitten in der Nacht

Mitten in der Nacht

Titel: Mitten in der Nacht
Autoren: Nora Roberts
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herumzuwirbeln. Und so hatte sie sich in der Dunkelheit des Gartens im Kreis gedreht. Und hatte im Drehen gesehen, dass Lucian sie vom Weg her beobachtete.
    Es war ihr ureigenstes Märchen, erinnerte sich Abby. Der Prinz, der Aschenputtels Hand nahm und sie, kurz bevor es Mitternacht schlug, zu einem Tanz aufforderte. Sie hatte keinen gläsernen Schuh und keine Kürbiskutsche, aber die Nacht hatte sich dennoch verzaubert.
    Noch immer hörte sie die Musik, die aus den Balkontüren durch die Luft in den Garten geschwebt war.
    »Ist der Ball dann vorbei und bricht an der Tag...«
    Leise sang sie den Refrain, während sie das Baby an die andere Brust anlegte.
    »Sind die Tänzer dahin mit den Sternen...«
    Sie hatten im vom Mondlicht beschienenen Garten vor der Kulisse des Hauses, das sich hinter ihnen wie ein königlicher Schatten in Weiß und Gold erhob, zu diesem schönen, traurigen Lied getanzt. Sie in ihrem einfachen Kattunkleid, Lucian in seinem eleganten Abendanzug. Und wie im Märchen, wo alles möglich war, verliebten sie sich während dieses schönen, traurigen Liedes.
    O ja, sie wusste natürlich, dass alles schon vor diesem Abend begonnen hatte. Für sie bereits, als sie ihn das erste Mal sah: rittlings auf der kastanienbraunen Stute, auf der er von New Orleans zur Plantage geritten kam. Die Sonne hatte so hell durch die Blätter und das Moos an den Eichen entlang der Allee gestrahlt, dass ihr Licht ihn wie Engelflügel umfing. Sein Zwillingsbruder – Julian – war neben ihm geritten, aber sie hatte nur Augen für Lucian gehabt.
    Sie war erst seit ein paar Wochen im Haus gewesen, angestellt als Hilfsdienerin und ständig bemüht, Monsieur und Madame Manet zufrieden zu stellen, damit sie ihre Stellung behielt und ihren Lohn verdiente.
    Er hatte sie jedes Mal, wenn sie sich im Haus begegneten, angesprochen – freundlich und korrekt. Aber sie hatte gespürt, dass er sie beobachtete. Nicht auf die Weise, wie Julian das tat, mit gierigen Augen und einem süffisanten Lächeln auf den Lippen. Aber doch mit einer Art Verlangen, wie sie sich jetzt gern erinnerte.
    In den folgenden Wochen war sie ihm oft begegnet. Er passte sie ab. Das wusste sie jetzt und schätzte es hoch ein, denn er hatte es ihr in ihrer Hochzeitsnacht gestanden.
    Aber tatsächlich begonnen hatte es erst am Abend des Balls. Nachdem das Lied zu Ende war, hatte er sie einen kleinen Augenblick länger festgehalten. Dann hatte er sich verbeugt, wie ein Herr sich vor einer Dame verbeugt. Anschließend küsste er ihre Hand.
    Als sie schon gedacht hatte, es sei vorbei und der Zauber würde nachlassen, steckte er die Hand, die er gerade geküsst hatte, in seine Armbeuge. Fing an mit ihr spazieren zu gehen, mit ihr zu reden. Über das Wetter, die Blumen, den Klatsch im Haus.
    Als ob sie Freunde wären, überlegte Abigail jetzt mit einem Lächeln. Als wäre es für Lucian Manet die natürlichste Sache der Welt, mit Abigail Rouse eine Runde durch den Garten zu drehen.
    Danach waren sie viele Nächte durch den Garten spaziert. Drinnen im Haus, wo die anderen sie sehen konnten, waren sie weiterhin Herr und Dienerin. Aber den ganzen rauschhaften Frühling hindurch schlenderten sie als junges Liebespaar über die Gartenwege und tauschten sich über ihre Hoffnungen und Träume, ihre Sorgen und Freuden aus.
    An ihrem siebzehnten Geburtstag überreichte er ihr ein Geschenk, eingewickelt in Silberpapier mit einer hellblauen Schleife. Die Emailleuhr hing als hübsche runde Scheibe von den goldenen Flügeln einer Brosche. Die Zeit fliege nur so dahin, wenn sie zusammen seien, meinte er, als er ihr die Uhr an den verblichenen Baumwollstoff ihres Kleides heftete. Und er würde sich liebend gern mit ihr aufschwingen, anstatt sein Leben fern von ihr zu verbringen.
    Er hatte ein Knie gebeugt und sie gebeten, seine Frau zu werden.
    Das war unmöglich. Oh, unter Tränen hatte sie versucht, ihm dies zu vermitteln. Er sei unerreichbar für sie und könne jede Frau haben, die er wollte.
    Jetzt in der Erinnerung hörte sie sein Lachen, sah die Freude, die sich auf seinem schönen Gesicht ausgebreitet hatte. Wie könne er unerreichbar für sie sein, da sie doch gerade eben seine Hand in der ihren halte? Und wenn er wirklich jede haben könne, dann sei das sie.
    »Und jetzt haben wir einander und dich«, flüsterte Abby und schob das dösende Baby auf ihre Schulter. »Und was macht es schon, wenn seine Familie mich dafür hasst? Ich mache ihn glücklich.«
    Sie drückte ihr
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