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Mit dem Blick aufs weite Meer

Mit dem Blick aufs weite Meer

Titel: Mit dem Blick aufs weite Meer
Autoren: Vanessa Grant
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Gesellschaft brauchte. Der Altersunterschied zwischen ihnen betrug über zwanzig Jahre. An jenem Nachmittag in der Mystery Bay hatte Charlotte der so viel jüngeren Freundin Geheimnisse enthüllt, die sie noch niemandem erzählt hatte.
    “Sie ist weggelaufen”, sagte Harvey, als spräche er zu sich selbst. “Aber warum läuft sie vor mir davon?”
    Beruhigend legte Angela die Hand auf Harveys. “Dad, nimm es nicht so schwer. Vielleicht möchte sie nur eine Zeitlang allein sein, um nachzudenken.” Aber inzwischen kannte Angela Charlotte gut genug, um eine Rückkehr für unwahrscheinlich zu halten.
    “Sie hat die Liegegebühr bis Sonntag bezahlt. Bis dahin wird sie bestimmt wieder hier sein, glaubst du nicht auch? Sie würde ihr Boot niemals im Stich lassen”, versuchte Angela ihren Schwiegervater zu trösten.

    Am Donnerstagmorgen erhielt Kent Ferguson ein Telegramm von Charlotte. Es kam im unpassendsten Augenblick, denn er stand gerade vor der schwierigen Entscheidung, ob er sein Vorkaufsrecht an den Wimbley Immobilien nutzen sollte oder nicht. Als Patricia leise das Büro betrat, schob Kent entschlossen den Gutachterbericht beiseite. Kent, über einsachtzig groß, war schlank, und an seinem Körper war kein Gramm Fett zuviel. Er hatte ein markantes Gesicht. Jetzt hob er den Kopf und sah seine Assistentin stirnrunzelnd an, die einen Umschlag in der Hand hielt. Dann warf er kurz einen Blick aus dem Fenster. Hinter den Hafenanlagen erhob sich eindrucksvoll die Skyline des Geschäftsviertels von Vancouver.
    “Patricia, rufen Sie bitte Emerson an und sagen Sie ihm, dass ich ihn heute nachmittag sprechen möchte.”
    Sie zögerte. “Dieses Telegramm ist gerade angekommen. Möchten Sie es zuerst durchlesen?” fragte sie mit ruhiger und geschäftsmäßiger Stimme. Patricia war dreißig. Sie wirkte jedoch älter und kleidete sich unauffällig, aber geschmackvoll. Ihren Arbeitstag hatte sie gerade erst begonnen, und Kent wusste, ohne zur Uhr sehen zu müssen, dass es Punkt neun war.
    Das Telegramm war durch Boten zugestellt worden und nicht über den Fernschreiber gekommen. Seine Ahnung, dass es von Charlotte sein musste, trog nicht. Ein kurzer Blick auf den Absender bestätigte seine Vermutung, Kent ahnte, dass seine ältere Schwester ihm wie gewöhnlich Unannehmlichkeiten bereiten würde. “Warum kann sie nicht einfach anrufen?”
    sagte er halblaut. “Aber versuchen Sie trotzdem, Emerson zu erreichen. Was immer sie diesmal wieder ausgeheckt haben mag, sie kann warten, bis ich mit Emerson gesprochen habe.”
    Vor fünf Jahren hatte Kent Charlotte zuletzt gesehen. Nachdenklich betrachtete er das ungeöffnete Telegramm. Er dachte an jenen Tag, an dem er nach Hause gekommen war und seine Mutter und Charlotte hinter verschlossene r Tür lautstark hatte streiten hören. Als sie seine Anwesenheit bemerkt hatten, waren sie sofort ruhig gewesen. Er hatte nur einige Worte von Charlotte aufgefangen, auf die seine Mutter mit scharfer Stimme geantwortet hatte:
    “Nein! Niemals! Wenn du es tust, werde ich …”
    Von diesem Zeitpunkt an hatte immer eine unheilverkündende Spannung in der Luft gelegen bis zu dem Tag, an dem sein Vater beerdigt worden war. Danach war Charlotte abgereist, ohne jemandem zu sagen, wohin sie gehen würde.
    Obwohl sie sich nie sehr nahe gewesen waren, vermisste Kent seine Schwester, aber das hätte er niemals vor einem anderen zugegeben.
    Manchmal hatte er überlegt, ob er heiraten und seine Frau in das düstere Haus, in dem seine Mutter lebte, bringen sollte. Aber der Gedanke, wie er eine Partnerin finden sollte, die es mit seiner Mutter aushielte, hatte ihn jedesmal wieder entmutigt. Außerdem war er mit seinem Leben zufrieden. Er besaß nicht weit von seinem Büro entfernt ein Apartment am Sunset Beach. Dort fühlte er sich mehr daheim als in dem großen Elternhaus am Marine Drive.
    Die meiste Zeit seines Lebens widmete Kent seinem Beruf, doch er hatte auch gelegentlich Frauenbekanntschaften. Er führte die Damen zum Essen und Tanzen aus und lud sie anschließend zu sich ein. Aber er hatte noch nie eine gebeten, über Nacht bei ihm zu bleiben.
    Gern hätte er Kinder gehabt, doch er hatte bis jetzt noch keine Frau gefunden, die er hatte heiraten wollen. Seine Schwester würde wahrscheinlich behaupten, dass er noch niemals verliebt gewesen sei. Aber wenn er Charlottes Leben betrachtete, schien ihm die Liebe eher ein Unglück zu sein als ein Vergnügen. Charlotte war mindestens zwei Männern
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