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Mit Blindheit Geschlagen

Mit Blindheit Geschlagen

Titel: Mit Blindheit Geschlagen
Autoren: Christian Ditfurth
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zufällig in diesen Fall verwickelt worden, hatte den Mörder überführt und den alten Holler gestellt, der den eigenen Tod simulierte, um unterzutauchen. Der Jude Leopold Kohn hatte sich gerächt. Hermann Holler hatte Kohns Familie ermorden lassen und deren Besitz geraubt. Die Lokalpresse überschlug sich, ein Historiker hatte die schrecklichste Mordserie seit dem Krieg aufgeklärt und die Polizei schlecht aussehen lassen. Es war erstaunlich, was die Medien Stachelmann andichteten, wo sie ihn doch nicht kannten und er mit keinem Journalisten sprach. Dann fanden sie eine andere Sensation und ließen ab von Stachelmann. Dessen Vater hatte den alten Holler gekannt, und die Trauergäste hassten Stachelmann, weil er ihre Vergangenheit ans Licht gezogen hatte. Die Polizei hatte nicht nur den Verkehr geregelt in der Nazizeit, ohne sie wären Ausplünderung, Deportation und der große Mord nicht möglich gewesen. Die alten Kameraden des Vaters im Polizeisportverein hatten Grund, Stachelmann zu hassen.
    »Du musst nicht mit zum Leichenschmaus«, sagte die Mutter, als sie an dem Glockenturm aus Beton vorbeiliefen.
    Stachelmann nickte.
    »Aber du musst mich bald besuchen. Wenn das vorbei ist.«
    Stachelmann gab der Mutter die Hand. Sie hielt sich gerade, streckte ihr Kreuz, als wollte sie sich wehren gegen die Last. Dann ging er mit schnellen Schritten zu seinem Auto und fuhr los. Er drehte sich nicht um. Unterwegs überlegte er, wann die Trauer käme. Er spürte nichts, vermisste seinen Vater nicht, Wehmut fühlte er nur, wenn er an Episoden dachte, die weit zurücklagen. Spiele mit dem Vater in der Kindheit. Der Vater als Helfer, wenn es Ärger gab in der Schule. Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke. Stachelmann war ein behütetes Kind gewesen, der Zwist kam später, zu spät, Stachelmann hätte den Vater früher fragen müssen. Ihr letztes Gespräch fiel ihm ein, als der Vater berichtete und doch nur Unverständnis erwartete. Die Behörden hätten ihn in den letzten Monaten des Kriegs an einen Platz gestellt, und er habe seine Pflicht getan, wie jeder andere Deutsche auch. Er hatte die Sträflinge nicht verhaftet und nicht abkommandiert zum Bombenräumen. Er passte auf sie auf, und wenn einer weglief, fing er ihn wieder ein. Es war Krieg; einer, der nicht dabei war, kann das nicht verstehen.
    An der Universität warteten Hausarbeiten von Teilnehmern seines Hauptseminars. Er hätte längst beginnen müssen mit der Korrektur, aber sie langweilte ihn. Je länger er sie hinausschob, desto stärker wurde der Druck. Es war immer so. Am Abend gab es bei Bohming den Empfang für den neuen Kollegen aus Berlin, Zeit genug, ein paar Arbeiten zu lesen und zu benoten. Stachelmann setzte sich auf den Schreibtischstuhl und lehnte sich zurück. An Holler hatte er schon lange nicht mehr gedacht, jetzt kehrte die Erinnerung zurück. Was wohl Holler junior trieb? Er spielte mit dem Gedanken, Ossi anzurufen, seinen Freund aus Studientagen, der bei der Hamburger Kripo arbeitete. Der wusste gewiss, was Maximilian Holler tat. Der Kontakt zu Ossi Winter war abgerissen, sie hatten sich gestritten bei den Ermittlungen und den Streit danach nicht ausgeräumt. Er wusste nicht mehr genau, um was es gegangen war.
    Er wollte über all das nicht mehr nachdenken, und das war ihm einigermaßen gelungen bis zur Beerdigung des Vaters. Wenn er an den Fall Holler dachte, fiel ihm die Zeit mit Anne ein. Anne, die ihn enttäuscht hatte und von der er manchmal zu wissen glaubte, sie dachte ähnlich über ihn. Auch wenn er nicht wusste, warum sie so denken sollte. Er hatte Abwehrkräfte entwickelt, gelernt, sachlich mit ihr umzugehen, Guten Tag zu sagen und Tschüss und ihr aus dem Weg zu gehen, wenn es möglich war. Er hatte sich darin eingerichtet. Anfangs schaute sie ihn manchmal traurig an, als wollte sie ihn auffordern, mehr zu sagen. Aber dann überzeugte er sich, er bilde es sich nur ein. Ein paarmal hätte er sie fast angesprochen, aber er wusste nicht, was sie erwartete. Und dann war sie eines Tages schwanger gewesen von einem anderen. Als er es hörte, betrank er sich und erschien am nächsten Tag nicht im Philosophenturm.
    Er griff nach einer Hausarbeit, sie schilderte die Einführung der Reichsfluchtsteuer in der Weimarer Republik. Diese Steuer diente der Devisenbewirtschaftung in der Weltwirtschaftskrise und wurde später eine der schärfsten Waffen der Nazis, als die daran gingen, die Juden auszurauben. Er las zwei, drei Seiten und schob die Arbeit
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