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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Autoren: Elizabeth Strout
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noch Grau und Beige tragen?«
    »Ich weiß«, sagte er zustimmend, so als hätte sich ihm diese Frage auch schon gestellt. Sie hatte sich ihm nicht gestellt.
    »Ein echtes Dummchen«, sagte Olive.
    Aber Denise war nicht dumm. Sie hatte einen Kopf für Zahlen und merkte sich alles, was Henry ihr zu den Arzneimitteln erklärte, die er führte. Sie hatte einen Abschluss in Biologie und kannte sich mit Molekularstrukturen aus. In ihrer Mittagspause saß sie manchmal auf einer der Kisten hinten im Lager, auf dem Schoß das Merck-Handbuch. Ihr Kindergesicht, ernsthaft gemacht durch die Brille, neigte sich konzentriert über die Seiten, ihre Knie ragten in die Höhe, ihre Schultern hingen nach vorn.
    Süß, schoss es ihm durch den Kopf, wenn er im Vorbeigehen einen Blick zu ihr hineinwarf. »Geht’s gut, Denise?«, fragte er dann manchmal.

    »O ja, wunderbar.«
    Das Lächeln blieb auf seinem Gesicht, wenn er seine Fläschchen anordnete, seine Etiketten tippte. Denises Wesen verband sich mit dem seinen so mühelos wie Aspirin mit dem Enzym COX-2; Henry glitt schmerzfrei durch den Tag. Das freundliche Zischen der Heizkörper, das Klingeln der Ladenglocke, wenn jemand zur Tür hereinkam, das Knarzen der Dielenbretter, das Ping der Registrierkasse - im Geist verglich er die Apotheke damals zuweilen mit einem gesunden, autonomen Nervensystem im Zustand ruhigen Funktionierens.
    An den Abenden siedete das Adrenalin. »Ich tu nichts anderes als kochen und putzen und hinter anderen Leuten herräumen«, schrie Olive etwa und knallte einen Teller Rindsgulasch vor ihn hin. »Alle sitzen nur mit langen Gesichtern da und warten darauf, dass ich sie bediene!« In seinen Armen kribbelte es.
    »Vielleicht könntest du ein bisschen mehr im Haushalt mithelfen«, sagte er zu Christopher.
    »Untersteh dich, ihn herumzukommandieren! Du interessierst dich ja noch nicht mal genügend für ihn, um zu wissen, was er in Sozialkunde durchmacht!«, fauchte Olive ihn an, während Christopher stumm blieb, den Mund süffisant verzogen. »Herrgott, sogar Jim O’Casey kümmert sich mehr um den Jungen als du«, sagte Olive. Sie klatschte ihre Serviette auf die Tischplatte.
    »Jim O’Casey unterrichtet bei euch an der Schule, alles, was recht ist, und er sieht dich und Chris jeden Tag. Was ist denn so schlimm in Sozialkunde?«
    »Nur dass der Dreckslehrer ein Vollidiot ist, was Jim intuitiv versteht«, sagte Olive. »Du siehst Christopher auch jeden Tag. Aber du kriegst nichts mit, weil du dich in deiner heilen kleinen Welt mit deinem grauen Mäuschen verschanzt.«
    »Ihr macht ihre Arbeit Spaß«, gab Henry zurück. Aber
am Morgen war die Schwärze von Olives Stimmung oft verflogen, und wenn Henry zur Arbeit fuhr, lebte die Hoffnung, die er am Vorabend verloren geglaubt hatte, neu auf. In der Apotheke regierten Friede und Wohlgefallen.
    Denise fragte Jerry McCarthy, ob er denn aufs College gehen wolle. »Weiß nicht. Glaub nicht.« Jerry wurde rot - vielleicht war er ein bisschen in Denise verliebt, oder er kam sich kindisch vor in ihrer Nähe: ein Junge, der noch zu Hause wohnte und unter seinem Babyspeck litt.
    »Mach doch einen Abendkurs«, sagte Denise fröhlich. »Da kannst du dich gleich nach Weihnachten einschreiben. Nur einen einzigen Kurs. Probier’s doch.« Denise nickte und sah Henry an, der zurücknickte.
    »Das stimmt, Jerry«, sagte Henry, der bis dahin kaum einen Gedanken an den Jungen verschwendet hatte. »Was interessiert dich denn?«
    Der Junge hob die dicken Schultern.
    »Irgendwas muss dich doch interessieren.«
    »Dieses Zeug hier.« Der Junge zeigte auf die Medikamentenkisten, die er gerade durch die Hintertür hereingetragen hatte.
    Und tatsächlich belegte er einen Chemiekurs, und als er im Frühling mit Eins abschloss, sagte Denise: »Rühr dich nicht vom Fleck.« Sie kehrte mit einer kleinen Torte in einer Tortenschachtel aus dem Lebensmittelladen zurück und sagte: »Henry, wenn das Telefon nicht läutet, feiern wir jetzt.«
    Beide Backen voller Torte, vertraute Jerry Denise an, dass er letzten Sonntag zur Kirche gegangen war, um dafür zu beten, dass er in der Prüfung gut abschnitt.
    Das gehörte zu den Dingen, die Henry an den Katholiken nie begreifen würde. Er wollte schon sagen: Gott hat keine Eins für dich geschrieben, Jerry, das warst du selber. Aber Denise fragte: »Gehst du jeden Sonntag in die Kirche?«

    Der Junge schaute verlegen und schleckte sich Zuckerguss von den Fingern. »Von jetzt an schon«, sagte er, und
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