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Miss Seeton riskiert alles

Miss Seeton riskiert alles

Titel: Miss Seeton riskiert alles
Autoren: Heron Carvic
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genauerem Hinsehen entpuppten sich die glitzernden, herabhängenden Prismen der Kronleuchter und Wandleuchter als topasfarbene Fische, die in Gruppen zusammenhingen wie der Fang eines Anglers, der die zu kleinen Fische nicht wieder ins Wasser geworfen hatte. Für den Fall, daß man noch nicht begriffen hatte, leuchteten zwischen den Täfelungen die gläsernen Fronten von Aquarien mit vorgetäuschtem Sonnenlicht und tropischen Fischarten, die die passenden Farben aufwiesen.
    Das Mädchen erreichte die Stufen zu dem für das Essen reservierten Teil des Lokals mit dem Gefühl, daß sie auf irgendeiner Südseeinsel an Land watete. Der junge Mann sprang auf, als er merkte, daß sie näher kam, und hielt sich, um Halt zu haben, an der Lehne seines Stuhles fest.
    »Danke, daß Sie meine beiden Chips gerettet haben«, sagte das Mädchen.
    »Nicht der Rede wert«, protestierte er. »Diese Dinger entgleiten einem schnell. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Gewinn.«
    »In Wirklichkeit«, antwortete sie, und ihre Oberlippe kräuselte sich, »bin ich gekommen, um Ihrer… Freundin zu danken.«
    Mit fassungsloser Miene, die wirksamer war als ein Hohnlächeln, näherte sich der Kellner und brachte einen weiteren Stuhl, stellte ein zusätzliches Glas hin und goß für die beiden Frauen Sekt und Ingwerbier für den jungen Mann ein; dann wandte er sich zu dem Servierwagen hinter sich um, legte die bereits vorbereiteten crepes de volaille in die Pfanne auf dem Spiritusbrenner, goß Kirschwasser darüber und flambierte sie. Die Ablenkung durch das Aufflackern der Flamme hinderte das Mädchen nicht daran zu beobachten, wie der junge Mann schnell die Gläser mit seiner Begleiterin tauschte und dann ostentativ Gin in seinen Sekt goß. Sie sah ihn verächtlich an.
    »Ich bleibe nicht.«
    »Oh, aber Sie müssen!«
    »Wieso?«
    »Ja, wirklich«, beharrte er. »Sie müssen auf Ihr Glück anstoßen.«
    »Ich würde Sie äußerst ungern berauben«, erwiderte sie. »Ich bin sicher, Sie können das zusätzliche Glas noch bewältigen und einen Schuß von…« Sie hielt inne. Unter den falschen Wimpern hervor glitt der Blick der älteren Frau abschätzend über sie hin. Trotz des vulgären Aufzugs, des häßlichen Make-ups, des verwirrenden Glitzerns der Pailletten, des übertriebenen Kückens der Diamanten an Ohren, Hals, Handgelenken und Händen kam sich das Mädchen plötzlich wie eine Närrin vor, wie ein Kind, das ungezogen ist. Sie erkannte, daß der Zorn sie bis an den Rand von unentschuldbar schlechtem Benehmen geführt hatte. Ihre Hände erhoben sich, die Finger skizzierten eine Entschuldigung, beschrieben einen Bogen der Resignation, und sie setzte sich.
    »Natürlich müssen Sie bleiben«, wiederholte der junge Mann. »Ihr Glück muß gefeiert werden.«
    »Es war nicht meines, es war…« Sie warf einen schnellen Blick auf die alte Frau und wußte nicht weiter.
    »Entschuldigen Sie.« Er grinste. »Mrs. Amos B. Herrington-Casey. Ich bin Tom Haley…« Er sah das Mädchen fragend an, während er sich setzte und der Kellner zu servieren begann.
    Das Mädchen ignorierte die stillschweigende Frage. »Verzeihen Sie, Mrs. Herrington-Casey. Ich bin nur gekommen, um Ihnen zu danken, weil ich Ihrem Spiel gefolgt bin und gewonnen habe. Wenn man dem Glück nicht dankt, dann verläßt es einen – so sagt man wenigstens. Vermutlich dummes Gerede, aber es war das erste Mal, daß ich etwas gewonnen habe, und . « Ihre Hände richteten sich nach oben, und ihre Finger beendeten den Satz.
    Die rot gemalten Lippen der alten Frau verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich glaube, das rührt von einem Aberglauben her. Wenn man von den Göttern für sich selbst Geschenke verlangt, nehmen sie Rache – die Götter meine ich – und verlangen sie zurück. Ich meine, die Geschenke.«
    Das Mädchen stutzte. Die Stimme war ganz anders, als sie erwartet hatte: hart und wahrscheinlich amerikanisch wegen des Namens. Aber diese Stimme war irgendwie fehl am Platz, ruhig, ernst, wie – mehr wie die einer Lehrerin. An diesem alten Mädchen war etwas Ungewöhnliches. Auch an diesem Tom Haley – irgend etwas, das nicht zusammenpaßte.
    »Na, gut.« Sie hob ihr Glas zum Toast und nippte daran. »Auf jeden Fall vielen Dank!« Sie wollte aufstehen.
    »Warten Sie«, rief der junge Mann. »Sie können nicht gehen, ohne Ihren Sekt ausgetrunken zu haben. Ich bin sicher, das bringt Unglück. Essen Sie etwas! Wir spielen weiter, wenn wir mit diesem Gang fertig sind – nicht wahr, Mrs.
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