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Miss Lily verliert ihr Herz

Miss Lily verliert ihr Herz

Titel: Miss Lily verliert ihr Herz
Autoren: DEB MARLOWE
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durch seinen verletzten Arm schoss. Trotzdem ließ er nicht locker. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Dann brachte er Pettigrews bösartige Pferde – temperamentvoll, ha! – tatsächlich zum Stehen.
    „Ich habe dir ja gleich gesagt, dass diese Tiere nichts für einen Verwundeten sind“, stellte sein Bruder Charles fest.
    „Sei still!“, gab Jack gereizt zurück. „Verflucht, da steht eine Frau auf der Straße.“
    „Sie sollte den Weg frei machen“, schimpfte sein Bruder. „Was starrt sie eigentlich an?“
    Die Gestalt, die ihm den Rücken zukehrte, trug ein unförmiges braunes Kleid sowie ein hässliches Häubchen in derselben Farbe und hatte den Blick auf einen Punkt am Rande der Straße gerichtet.
    „Vermutlich steht sie unter Schock. Schließlich hättest du sie fast überfahren.“
    „Quatsch!“ Jack drückte Charles die Zügel in die Hand und sprang aus dem Phaeton. Neuer Schmerz durchzuckte seinen Arm. „Kümmere dich um die Pferde!“, blaffte er.
    „Man bedauert übrigens bereits öffentlich, dass dir deine legendäre Gelassenheit abhandengekommen ist. Weißt du das eigentlich?“
    Ein zorniger Blick war die Antwort. In diesem Moment wollte Jack gar nicht gelassen sein. Er war wütend. Und er hatte ein Recht darauf, wütend zu sein! Schließlich wäre diese dumme Person beinahe unter die Räder gekommen, und zwar ausgerechnet unter die Räder des Wagens, den er kutschierte!
    Er konnte sie jetzt deutlicher sehen. Sie stand noch immer dort, wo sie eindeutig nichts zu suchen hatte: auf der Straße direkt vor Pettigrews Hengsten. „Madam!“, rief er und machte ein paar Schritte auf sie zu.
    Außer ihm schien niemand sich besonders für die Frau zu interessieren. Die meisten Leute gingen einfach weiter. Nur ein rotgesichtiger Gentleman schaute zu ihr hin, ohne allerdings irgendetwas zu unternehmen, um sie auf den Bürgersteig zurückzuholen.
    „Madam?“, wiederholte Jack.
    Keine Reaktion.
    „Wenn Sie sich das Leben nehmen wollen, indem Sie sich vor eine Kutsche werfen, dann suchen Sie sich dazu doch bitte den Wagen eines anderen Mannes aus. Ich habe diesen Phaeton nur ausgeliehen und würde ihn gern unbeschädigt zurückgeben.“
    Sie schaute nicht einmal zu ihm hin.
    „Ist Ihnen überhaupt klar, dass Sie nur knapp dem Tod entgangen sind? Kommen Sie!“ Er ergriff ihren Arm. „Sie können nicht hier auf der Straße stehen.“
    Langsam wandte sie den Kopf und schaute Jack ins Gesicht.
    O Gott, er wünschte, sie hätte das nicht getan!
    Er war umgeben von schönen Dingen aufgewachsen und hatte gelernt, alles Schöne zu schätzen. Eine elegantes Möbelstück, eine antike Statue, ein modernes Landschaftsgemälde oder auch ein architektonisch gelungenes Gebäude konnte ihm tiefe Bewunderung entlocken. Das Gleiche galt auch für menschliche Schönheit – und diese Frau war schön! Mit ihren großen schieferblauen Augen, den rot-goldenen Locken, den sanft gerundeten Wangen, der samtenen Haut und der kleinen Nase, auf der sich ein paar Sommersprossen zeigten, entsprach sie genau dem englischen Schönheitsideal.
    Und erst ihr Mund! Sein eigener wurde trocken, während er den ihren betrachtete. Sie hatte die Lippen einer Sirene, fein geschwungen, rosig, einfach hinreißend. Ihre volle Unterlippe bebte. In diesem Moment wurde Jack klar, was er da sah: ein Bild größten Kummers und beängstigender Verlorenheit.
    Sein Herz begann schneller zu schlagen. Und entdeckte eine neue, unerwartete Seite seines Charakters. Bisher hatte er sich nie in der Rolle des Ritters in schimmernder Rüstung gesehen, der der bedrängten Jungfrau zu Hilfe eilte. Doch das von tiefem Unglück gezeichnete Gesicht dieser Unbekannten weckte ritterliche Gefühle in ihm. Wahrhaftig, nichts wünschte er sich plötzlich mehr, als sie zukünftig vor jedem Schmerz zu bewahren und all ihre Schlachten für sie zu schlagen.
    Nein, er musste sich selbst gegenüber ehrlich sein. Etwas gab es, das er sich noch mehr wünschte: Er wollte diese vollen roten Lippen küssen!
    Er schluckte, verstärkte den Druck seiner Finger auf ihren Arm und fand zurück in die Wirklichkeit. Bei Jupiter, noch immer standen sie mitten auf einer belebten Londoner Straße und hielten den Verkehr auf! Schon waren die ersten Beschimpfungen von ungeduldigen Kutschern zu hören. Pettigrews Pferde warfen nach wie vor unruhig die Köpfe hin und her. Ein schmutziger Kohlenträger war Charles zu Hilfe gekommen und hielt einen der Hengste am Zaumzeug fest. Auf dem
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