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Milchfieber

Milchfieber

Titel: Milchfieber
Autoren: Thomas B. Morgenstern
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zurück.
    Alles ging so schnell, dass sich Allmers später nicht mehr daran erinnern konnte, wie Jürgens Frau schreiend die Treppe vom Heuboden herunter gelaufen kam. Sie kniete plötzlich neben ihrem Mann und kümmerte sich schluchzend um ihn.
    „Mach doch was“, schrie sie Allmers an, „mach doch was.“ Hintelmann stöhnte und bewegte sich leicht, Allmers zog sein Handy aus der Tasche und rief den Notruf an.
    „Nicht bewegen“, fuhr er die Frau an, als sie ihren Mann umdrehen wollte. „Nicht bewegen, das muss der Arzt machen.“
    Erst als der Notarztwagen mit Blaulicht auf den Hof kam, bemerkte die Tochter der Bauern, dass ein Unfall geschehen war. Irene Hintelmann war nicht von der Seite des Bewusstlosen gewichen und Allmers hatte nicht daran gedacht, jemandem Bescheid zu sagen
    Irene Hintelmann bestand darauf, ihren Mann ins Krankenhaus zu begleiten. Die Tochter war starr vor Schreck. Wortlos sah sie dem Notarztwagen hinterher. Als er vom Hof fuhr, warf sie sich Allmers an den Hals und begann zu schluchzen.
    „Ist er tot?“, fragte sie verzweifelt.
    „Nein“, versuchte Allmers sie zu beruhigen, „natürlich nicht. Die Ärzte haben ihn doch versorgt. Er hat ein paar Knochen gebrochen, aber das wird schon wieder.“
    Allmers war unwohl, der Sturz war viel dramatischer gewesen, aber er hatte keinen Mut, dem Mädchen die Wahrheit, die er ahnte, zu sagen. Jürgen Hintelmann hatte schwerste Kopfverletzungen, das hatte er den gezischten Anweisungen des Arztes entnommen. Er kannte diese Situationen, manchmal wurde er nachts vom Feuerwehrpieper geweckt und musste aus Autos, bei denen man nur noch schwer die Marke erkennen konnte, halbtote Fahrer herausschneiden. Dann redeten die Ärzte ähnlich. Leise und bestimmt. Aber ohne Hoffnung.
    Allmers kannte die Familie Hintelmann kaum. Jürgen hatte sich erst vor zwei Jahren entschlossen, sich dem Milchkontrollverein anzuschließen. Er galt als Sonderling, der bei seinen Kollegen nicht sehr beliebt war. Er war verschlossen und es konnte vorkommen, dass er grußlos an ihnen vorbeifuhr, wenn man sich auf der Landstraße mir den Treckern begegnete. Unter Bauern waren dabei keine großen Begrüßungen üblich. Entweder man nickte sich zu, unmerklich fast, ein Uneingeweihter hätte die Geste wahrscheinlich gar nicht bemerkt, oder man hob lässig zwei oder drei Finger der linken Hand. Das Lenkrad musste man zu dieser minimalistischen Bewegung nicht einmal loslassen. Selbst dazu konnte sich Hintelmann oft nicht entschließen.
    Irene Hintelmann war Allmers nur sehr selten begegnet. Hintelmann ließ niemanden, nicht einmal seine Frau, an seine Kühe. Der Stall war sein Revier, er war immer, wenn Allmers auf den Hof kam dort oder in der Nähe anzutreffen. Selbst das morgendliche und abendliche Treiben der Kühe von der Weide in den Stall besorgte er selbst. Da würde man die Tiere am besten beobachten können, hatte er Allmers erklärt. Und bevor Irene überhaupt gemerkt hätte, dass da eine brünstig sei, wäre von ihm schon der Tierarzt für die Besamung angerufen worden.
    Man munkelte im Dorf, dass die beiden keine gute Ehe führen würden. Irene Hintelmann traf beim Einkaufen manchmal auf Nachbarinnen. Ab und zu, so wurde erzählt, trug sie eine Sonnenbrille. Auch abends im Winter. Warum, könne man sich denken.
    Die Tochter war siebzehn und als sie sich von Allmers Hals löste war er überrascht von ihrem ungewöhnlichen Gesicht, das fast quadratisch war. Sie hatte keine schöne Nase, der Mund war schief und die Augenbrauen waren über der Nasenwurzel zusammengewachsen. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte Allmers über ihre Ohren gelacht. Sie waren viel zu groß und standen ab wie bei einer Siebenjährigen. Trotzdem fand Allmers, das alles genau zusammen passte, er fand sie sogar schön.
    Meike Hintelmann wischte sich die Tränen vom Gesicht, murmelte leise: „Entschuldigung“ und fragte dann: „Und wer melkt jetzt?“
    „Du?“, fragte Allmers.
    Meike schüttelte den Kopf. „Kann ich nicht, mein Vater hat uns nie an die Kühe rangelassen.“
    „Also ich“, meinte Allmers und dachte, wie bescheuert doch manche Bauern seien.
    Meike nickte: „Wenn du mir sagst, was ich machen soll, kann ich dir helfen.“
    In der Nacht klingelte um elf Uhr sein Telefon. Allmers war nach dem Melken nach Hause gefahren, hatte etwas gegessen und wollte gerade ins Bett gehen.
    „Hier ist Irene Hintelmann“, sagte die Bäuerin mit müder Stimme.
    „Wie geht es
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