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Milano Criminale: Roman (German Edition)

Milano Criminale: Roman (German Edition)

Titel: Milano Criminale: Roman (German Edition)
Autoren: Paolo Roversi
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im ›Corriere della Sera‹ wieder einen Hintergrundartikel von Indro Montanelli, der die Gefühle der Italiener folgendermaßen auf den Punkt bringt: »Offiziell und öffentlich bekundet natürlich jedermann, wie froh und erleichtert er ist, dass die Verbrecher gefasst wurden, damit niemand Lust bekommt, ihnen nachzueifern. Aber insgeheim – was niemand zuzugeben und schon gar nicht auszusprechen wagt – war die Mehrheit der Menschen auf Seiten der Bankräuber. Dieser minutiös geplante Zusammenstoß zwischen Geldtransporter und Lieferwagen, der die Passanten ablenken sollte, sowie die schnelle und präzise, geradezu ferngesteuerte Erstürmung des Transporters haben die Italiener in Verzückung versetzt.«

Räuber und Gendarm
    1
    Es ist ein lauer Abend, obwohl der Sommer sich langsam dem Ende zuneigt.
    Giovanni reibt sich die Hände, er ist aufgeregt. Auf seiner hohen Stirn perlt der Schweiß, und seine ohnehin leicht hervortretenden Augen scheinen geradezu aus den Höhlen zu springen. Antonio mustert ihn schweigend. Er geht aufs Gymnasium, während sein Bruder, seit einer Woche zwanzig, schon vor einiger Zeit die Bücher gegen eine Arbeit als Schweißer beim Automobilzulieferer Marelli getauscht hat.
    »Bist du so weit?«, fragt ihn der Vater.
    Giovanni nickt und steht auf. Antonio bleibt am Tisch sitzen, vor sich ein Päckchen MS . Wie gern würde er mitkommen, doch er weiß, dass das nicht geht, also schweigt er.
    »Du halt dich an die Zigaretten«, sagt der Vater im Hinausgehen.
    Heute wird Giovanni zum ersten Mal ein Bordell betreten. Und gleichzeitig auch zum letzten Mal.
    Es ist die Nacht des Abschieds, eine Nacht der Trauer und der Tränen für viele Menschen.
    In der Bar unten im Haus, zwischen Kartenspiel und Zigarettenqualm, hat Antonio tagelang den Diskussionen der Leute gelauscht, bis die Parlamentsabgeordneten das Gesetz Merlin endlich verabschiedeten.
    »Nach meinem Dafürhalten handelt es sich um eine sinnvolle öffentliche Einrichtung«, hatte der Anwalt argumentiert, der oft in der Bar war und bei dem immer alle schwiegen, wenn er redete, »und zwar sowohl für die Ehefrauen, die von den exzessiven Wallungen ihrer Männer verschont bleiben, als auch zur Vorbeugung vor Geliebten, zur Stärkung des Familienzusammenhalts und zur physischen Reifeprüfung der männlichen Nachkommenschaft.« Ob vor seinem Espresso oder vor Gericht, der Mann klang immer gleich.
    An diesem Abend stand Antonios Vater beim Essen das Bedauern ins Gesicht geschrieben, auch wenn er es niemals zugegeben hätte. Zwischen Pasta und Hauptgang hatte er Giovanni einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen.
    »Nach dem Essen wirst du zum Mann«, mehr hatte er nicht gesagt.
    Trotzdem verstanden alle, was gemeint war. Auch seine Frau, dem Anschein nach eine kleine, farblose Person, dabei aber zäh und widerstandsfähig. Scheinbar unbeteiligt spült sie die Teller. Sie ist eine Begine und kennt das Leben, sie weiß, dass die Männer von Anbeginn der Zeit in den Puff gehen. Wie sie selbst jeden Sonntag in die Kirche.
    Die sogenannten ›Häuser der Toleranz‹ gab es bereits lange vor ihrer Geburt, seit 1883. Die dort arbeitenden Frauen spielten seit jeher die Rolle von Geliebten und Vertrauten, wiesen geduldig ganze Generationen von jungen Burschen in die Manneskraft ein und spendeten ausgehungerten Soldaten generös Liebe. Auch ihr Vater hatte Bordelle besucht, ein über jeden Zweifel erhabener Generalfeldmarschall. Der Bordellbesuch war nicht unmoralisch, und er musste auch nicht dem Pfarrer gebeichtet werden, da man ihn auf der Liste der schändlichen Sünden vergeblich suchte. Und wenn die Kirche einverstanden war, was sollte sie dann dagegen haben? Zumal es den Vorteil hatte, dass ihr Mann sie im Bett in Ruhe ließ. Ja genau, bei näherer Betrachtung könnte die Sache sich auch auf ihre eigene Beziehung auswirken, wenn sie ab morgen wesentlich häufiger als gewohnt die Beine für ihn würde breit machen müssen.
    Gerade heute Nachmittag hatte Antonio wieder mal einen Artikel von Montanelli gelesen, in dem es polemisch hieß: »Die Bordelle sind der sichere Garant für die drei Grundpfeiler Italiens: Glauben, Vaterland und Familie.«
    In den TV -Nachrichten unten in der Bar, da sie in der Wohnung kein Fernsehgerät hatten, hörte er, wie der Sprecher in einer Meisterleistung der Prüderie das Ereignis verkündete, ohne die abzuschaffende Sache auch nur einmal beim Namen zu nennen. Glaube, Vaterland, Familie.
    »Und Lüge«, hatte er
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