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Memed mein Falke

Memed mein Falke

Titel: Memed mein Falke
Autoren: Yasar Kemal
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Während des Essens sprach keiner ein Wort. Darauf wurde noch eine Traglast Holz auf das Feuer geworfen. Der Alte legte selbst ein großes Scheit genau in die Mitte des Feuers. Es wurde von den benachbarten Flammen ergriffen. Immer wieder war es so, und es machte dem Alten immer wieder Vergnügen, wenn die Flammen sein Stück Holz umzüngelten, packten und fraßen.
    Seine Frau trat zu ihm, näherte sich seinem Ohr und flüsterte: »Süleyman, wo soll ich dem Kind sein Lager richten?«
    Süleyman antwortete mit seinem stets gleichbleibenden Lächeln: »Soll er vielleicht in der Krippe vom großen Gaul schlafen? Wer weiß, wie weit unser Gast gewandert ist, um gerade zu Süleyman zu kommen! Ich will, daß er gut schläft bei uns.«
    Er wandte sich zu Memed, der inzwischen von der Wärme schläfrig geworden zu sein schien: »Hör mal, mein Gast, willst du schlafen?«
    Memed schüttelte sich: »Nein, nein! Ich bin ganz wach.«
    Der Alte schaute ihm forschend ins Gesicht. »Hör mal, Ince Memed, bis jetzt hast du noch nichts davon gesagt, wo du herkommst. Und wo willst du eigentlich hin?«
    Ince Memed rieb sich die vom Rauch gebeizten Augen. »Von Değirmenoluk komm ich, und ich gehe in das Dorf.«
    Süleyman wurde langsam neugierig: »Na, Değirmenoluk kenne ich ja, aber welches andere Dorf meinst du?«
    »Na, Dursuns Dorf.«
    »Von welchem Dursun?« fragte Süleyman hartnäckig weiter. »Na, bei Abdi Aga arbeitet er.« Dabei starrte er ins Leere.
    »Ha? « machte der Alte.
    »So heißt unser Aga. Dursun ist sein Knecht. Er pflügt für Abdi Aga. Das ist Dursun.« Seine Augen glänzten plötzlich. Dann fügte er hinzu: »Neulich hat er einen jungen Falken gefangen. Diesen Dursun meine ich. Weißt du jetzt, welchen ich meine, Onkel?«
    »Ja, ja, ich weiß schon; und was weiter?«
    »In sein Dorf gehe ich eben. Dursun hat mir gesagt: Bei uns im Dorf schlagen sie die Kinder nicht. Sie treiben sie nicht zum Pflügen. Auf unseren Feldern wachsen keine Graudisteln. So sagte er, und da gehe ich jetzt hin.«
    »Na, und wie heißt das Dorf? Hat dir Dursun das nicht auch gesagt?«
    Memed schwieg, dachte nach, den Daumen im Mund. Dann sagte er leise: »Nein. Den Namen hat er mir nicht gesagt.«
    »Seltsam«, meinte Süleyman.
    »Ja, seltsam«, wiederholte Memed. »Wir haben zusammen gepflügt, Dursun und ich. Da haben wir uns manchmal zum Ausruhen auf einen großen Stein gesetzt. ‚Unser Dorf müßtest du mal sehen', sagte er dann, ‚seine goldene Erde, das Meer und die Tannen. Dort fährt man einfach auf die See hinaus und kann dann überallhin kommen.' Dursun ist von dort durchgebrannt. Das darf ich aber keinem erzählen. Nicht einmal meiner Mutter hab ich es gesagt.«
    Dicht an Süleymans Ohr setzte er hinzu: »Und du sagst es auch keinem, Onkel?«
    »Hab keine Angst«, begütigte Süleyman. »Ich verrate schon nichts.«
    Die Schwiegertochter stand auf und ging hinaus. Kurz darauf kehrte sie zurück, mit einem gefüllten Sack auf der Schulter, den sie zur Erde fallen ließ. Ein Haufen Baumwollkapseln quoll heraus. Sie waren schon gereinigt, schneeweiß, lauter runde weiße Wölkchen. Im Nu hatte sich ihr scharfer Geruch im Raum verbreitet.
    »So, jetzt wollen wir Baumwolle zupfen. Nun zeig mal, was du kannst, Ince Memed«, sagte Süleyman munter.
    Ince Memed, der sich schon eine Armlast von den Flocken vorgenommen hatte, gab ebenso munter zurück: »Baumwolle zupfen! Als ob das auch eine Arbeit wäre!«
    Sofort begannen seine geschickten Hände zu arbeiten wie eine Maschine.
    »Sag mal Ince Memed«, fragte der Sohn, »wie willst du das Dorf eigentlich finden?«
    Ince Memed war es anzumerken, daß ihm diese Frage zu schaffen machte. Mit einem kleinen Seufzer antwortete er: »Ich werde es eben suchen. Es liegt am Meer. Ich finde es schon.«
    »Hör mal, Ince Memed, von hier bis zum Meer sind es nicht weniger als fünfzehn Tage Weg.«
    »Ich suche es eben. Zurück nach Değirmenoluk gehe ich nicht. Lieber will ich sterben! Ich kann nicht mehr zurück. Und ich gehe auch nicht zurück.«
    »Nun sag mal, Ince Memed«, nahm Süleyman das Wort, »mit dir ist doch irgend etwas los, Junge. jetzt einmal heraus mit der Sprache! Warum streichst du so auf den Straßen umher?«
    »Laß nur, Onkel Süleyman. Ich will dir ja alles erzählen. Mein Vater ist tot, und ich bin mit Mutter allein. Wir haben sonst niemanden. Und ich pflüge Abdi Agas Land.«
    Als er soweit gekommen war, füllten sich seine Augen mit Tränen. Die Kehle war ihm wie
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