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Memed mein Falke

Memed mein Falke

Titel: Memed mein Falke
Autoren: Yasar Kemal
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kehre ich um, nie mehr gehe ich zurück. Vieh will ich hüten. Pflügen will ich. Ja, Vieh hüten und pflügen. Mutter soll mich nur suchen. Solange sie will. Der Ziegenbart soll mich nie wieder sehen, nie wieder. Aber wenn ich das Dorf nicht finde? Dann muß ich hier draußen umkommen. Dann sterbe ich eben. Das ist immer noch besser ... «
    Eine golden-warme Herbstsonne lag auf den Felsen, auf der Platane und auf dem Blätterhaufen. Einige Herbstblumen wagten sich aus dem im Sonnenglanz verjüngten Boden hervor. Bitter duftete der feuchtglänzende Affodill. Man riecht ihn zur Herbstzeit überall in den Bergen.
    Eine oder zwei Stunden - wie konnte er es genau wissen? - blieb er dort. Die Sonne war schon hinter den Bergkämmen verschwunden, er hatte es nicht bemerkt. Erst jetzt besann er sich mit einem Mal darauf, daß man hinter ihm her war. Eiskalt überfiel ihn die Furcht. Wohin jetzt? Er wußte es nicht. Ein schmaler Ziegenpfad führte zwischen den Felsen hindurch. Ihm folgte er, atemlos laufend, ohne auf Felskanten und Geröll zu achten. Seine Müdigkeit war verflogen Er blieb stehen, schaute sich einen Augenblick um, hastete weiter, über seine eigenen Füße stolpernd. Sein Auge traf eine winzige Eidechse auf einem verrotteten Baumstumpf. Das Tierchen huschte unter den Baum, als er näher kam.
    Plötzlich begann er zu taumeln, blieb stehen. Es wurde ihm schwarz vor den Augen. Alles drehte sich um ihn. Mit zitternden Händen und Füßen stand er schwankend, blickte hinter sich und lief weiter. Ein Schwarm Rebhühner flog vor ihm auf, Herzschläge voll Angst für ihn, beim geringsten Geräusch schreckte er zusammen. Bis in den Hals fühlte er sein Herz klopfen. Entmutigt und schweißgebadet schaute er wieder zurück. Seine Knie gaben nach, und er mußte sich zu Boden fallen lassen. Er befand sich auf einem steinigen, kleinen Abhang. In den scharfen Geruch seines Schweißes mischte sich Blütenduft. Nur mühsam konnte er die Augen öffnen. Er hob zögernd den schwer gewordenen Kopf, blickte ängstlich nach unten. Dort sah er verschwommene Umrisse. Aber war das nicht ein Lehmdach? Freudiger Schreck ließ sein Herz so hoch schlagen, als trage er es auf der Zunge. Wirklich, ein Haus! Jetzt konnte er Rauch aus dem Schornstein aufsteigen sehen. Keinen schwarzen, sondern leicht purpurfarbenen Rauch, der sich spiralig verteilte.
    Hinter sich hörte er ein Geräusch wie von Schritten. Er fuhr herum. Links von ihm stürzte der Wald wie eine nachtschwarze Mauer vom Himmel auf die Erde. Die dunkle Masse kam näher, wie die schnell wandernde Front eines furchtbaren Wolkenbruchs ... Wieder fing der Knabe zu sprechen an, diesmal laut, mit der Kraft der Verzweiflung, während er, um dem unheimlichen Dunkel zu entkommen, in entgegengesetzter Richtung ausschritt: »Ja, ich gehe hin und sage ihnen ... ich gehe und sage ... Ich wollte euch sagen ... ich bin zu euch gekommen, um euer Vieh zu hüten. Pflügen kann ich auch ... auch Korn schneiden. Ich heiße Mistik, Mistik der Schwarze ... Nein, eine Mutter habe ich nicht, Vater auch keinen ... Abdi Aga schon gar keinen. Ich will mich um eure Schafherde kümmern, euer Feld pflügen. Ich will euer Kind sein, ja ... Nein, ich bin nicht Ince Memed, Kara Mistik nennen sie mich. Soll meine Mutter nur weinen. Soll mich Abdi Aga der Gottlose nur suchen. Ich werde zu ihnen gehören als ihr Kind ... «
    Dann brach er in lautes, jammervolles Weinen aus. Die schwarze Waldwand war immer noch nicht weg. Aber das Heulen aus vollem Halse machte ihn ruhiger. Als er den Hang hinabstieg, hatte er sich ausgeweint. Er wischte sich die Nase am Rockärmel trocken.
    Als er im Hof des kleinen Hauses stand, hatte sich die Dunkelheit weiter ausgebreitet. Aber man konnte noch die Umrisse anderer Häuser erkennen. Er blieb einen Augenblick stehen, dachte nach. Ob dies das Dorf war? Vor der Haustür machte sich ein Mann mit langem, schwingendem Bart mit einem Packsattel zu schaffen. Von seiner Arbeit hochsehend, bemerkte er den aufrechten Schatten im Hof. Das dunkle Etwas machte zwei Schritte auf ihn zu, dann regte es sich nicht mehr. Der Mann störte sich nicht weiter daran und fuhr in seiner Arbeit fort, bis es ganz dunkel geworden war. Als er sich dann wieder umwandte, sah er, daß der aufrechte Schatten noch immer an der gleichen Stelle stand.
    »He du!« rief er. »Was hast du hier zu suchen?«
    Aus dem Dunkel antwortete es: »Ach, ich ... Ich will Hirte bei dir werden, Onkel. Ich erledige dir alle
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