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Meister der Stimmen: Roman (German Edition)

Meister der Stimmen: Roman (German Edition)

Titel: Meister der Stimmen: Roman (German Edition)
Autoren: Rachel Aaron
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zerbrochene Möbel und vergessene Lappen, aber die Aufmerksamkeit der Ratte konzentrierte sich auf die Gestalt in der hinteren Ecke – den Ursprung des Drucks.
    Der Mann saß an die Wand gelehnt da und ließ einen schwarzen Ball auf seiner linken Handfläche herumrollen. Sein Spielzeug war ungefähr so groß wie eine dicke Murmel und glänzte wie ein nasser Flusskiesel. Der Mann selbst war dünn und groß, mit verfilzten blonden Haaren, die ihm wie ein dreckiger Vorhang ins Gesicht hingen. Für einen Moment rührte er sich nicht, dann steckte er langsam und liebevoll die schwarze Kugel in seine Tasche und winkte die Ratte heran. Der Druck erreichte seinen Höhepunkt und die Ratte gehorchte, indem sie auf dem Bauch näher kroch, bis sie nur noch wenige Zentimeter vom nackten Fuß des Mannes entfernt war.
    »Und jetzt«, sein Flüstern hallte durch den Raum und verstärkte noch den Druck, der drohte, den Geist der Ratte zu zerquetschen, »erzähl mir, was du gesehen hast.«
    Die Ratte hatte keine andere Wahl. Sie erzählte ihm alles.

    Der Junge, der draußen im Flur kniete und sein Auge gegen einen Riss in der Türleiste presste, musste die Hand vor den Mund schlagen, um nicht aufzuschreien. Der blonde Mann, der den Speicher mietete, hatte ihn schon immer nervös gemacht, und deswegen hatte er es auch auf sich genommen, ihm hinterherzuspionieren. Er hatte seinem Vater wieder und wieder erklärt, dass der Mieter nicht ganz richtig im Kopf war. Immerhin hatte er gesehen, wie er mit den Wänden, dem Boden und selbst dem Müll sprach, als könnten diese Gegenstände antworten. Aber jedes Mal hatte sein Vater ihm gesagt, er solle es gut sein und den Mieter in Ruhe lassen. Der blonde Mann hatte den Raum schon gemietet, als sie letztes Jahr eingezogen waren, und sein Geld sorgte dafür, dass die Familie in harten Zeiten trotzdem Schuhe hatte und nicht auf der Straße landete. Aber dieses Mal war es etwas anderes. Dieses Mal hatte der Junge tatsächlich gesehen, wie der Mann ein Fenster für eine Ratte öffnete. Sein Vater war Metzger und führte im Erdgeschoss seine Metzgerei. Sobald er ihm erzählte, dass der Mieter Ungeziefer ins Haus ließ, würde sein Vater den verrückten Mann rauswerfen müssen, Geld hin oder her. Mit einem breiten Grinsen stand der Junge auf und schlich auf die Treppe zu. Doch noch bevor er zwei Schritte weit gekommen war, hielt er inne. Was war das für ein seltsames Geräusch? Es kam aus dem vermieteten Zimmer, und der Junge brauchte einen Moment, bis er begriff, dass der Mieter lachte.
    Dann wurde die Tür des Zimmers aufgerissen, und bevor er weglaufen konnte, stand der blonde Mann vor ihm. Immer noch lachend packte der Mann den Jungen an seinem geflickten Kragen und riss ihn mit überraschender Kraft nach oben.
    »Junger Mann«, sagte er mit geschmeidiger Stimme, während gleichzeitig etwas Glattes, unerwartet Schweres in der zitternden Hand des Jungen landete. »Nimm das. Finde jemanden, der in dieser Gosse als Schneider durchgeht, und bring ihn hierher. Wenn du schnell genug bist, bekommst du noch eine.«
    Damit ließ er den Jungen genauso plötzlich fallen, wie er ihn gepackt hatte. Der Junge landete auf den Füßen und starrte sofort auf das Ding in seiner Hand. Es war ein Goldstandard. Seine Augen wurden groß wie Suppenteller, und für einen Moment vergaß er, dass er den seltsamen blonden Mann nicht mochte. »Ja, Herr!«
    »Und sag deiner Mutter, dass sie warmes Wasser hochbringen soll«, fügte der Mieter hinzu, als der Junge schon die Treppe hinunterrannte.
    Das Kind rief nach seiner Mutter, und der Mieter trat wieder in sein Zimmer. Die Ratte lag zuckend in der Ecke, wo er sie liegen gelassen hatte, und er trat sie mit einem Fuß beiseite. Solche schwachen Geister waren zum einmaligen Gebrauch geeignet. Er würde noch mehr brauchen. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die staubige Wand hinter sich und grinste, als das Holz verängstigt knirschte.
    »Finde mir einen weiteren Spion.«
    Eine feine Staubwolke rieselte von der Decke, als die Wand zitterte. »Ja, Meister Renaud.« Mit einem Summen raste der Befehl, nach einer neuen Ratte zu suchen, durch das Gebäude.
    Renaud ließ sich gegen die Müllhaufen sinken und starrte aus dem offenen Fenster auf die von der Abendsonne angestrahlten Türme der Burg Allaze, die genauso weiß und schön waren wie in den Erinnerungen seiner Kindheit. Jetzt, endlich, nach acht Jahren der Schande und der Verbannung – acht Jahre, in denen er auf eine
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