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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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bei der Geburt meines Vaters dabei gewesen und mit Philippe im Flur des Krankenhauses auf- und abmarschiert. Und Philippe hatte dasselbe bei der Geburt meiner Mutter getan. Damals hatten sich die beiden Freunde versprochen, ihre Kinder miteinander zu verheiraten – was somit geschah, dank der zufälligen Begegnung in Manhattan.

    Doch auch ohne dieses Arrangement meiner Großväter hatte die Liebe leichtes Spiel, und die Hochzeit wurde bald darauf gefeiert. Meine Schwester Lynn kam in New York zur Welt, und die kleine Familie lebte noch einige Jahre in den USA, wo mein Vater für eine amerikanische Airline flog.
    Meine Mutter erzählte mir, wie groß ihre Enttäuschung war, als sie nach Belgien zurückkehrten. Alles musste nach dem Krieg wiederaufgebaut werden, und der Unterschied zwischen den technisch fortschrittlichen USA und dem winzigen Belgien, wo gerade die ersten elektronischen Haushaltsgeräte und neu auch Alufolie auf den Markt kamen, war enorm. Als mein Vater bei der Sabena angestellt wurde, bat man ihn, auf seine amerikanische Staatsangehörigkeit zu verzichten. Es war die Zeit des Kalten Kriegs, und in den Ländern des Ostblocks, die er häufig anflog, war ein Pass der USA nicht gern gesehen. So kam es, dass meine Schwester Lynn in den Vereinigten Staaten als Kind amerikanischer Eltern geboren wurde, während ich in Belgien als Kind belgischer Eltern das Licht der Welt erblickte!
    Ich wuchs also in der Heimat von Jacques Brel auf, im Land der Schokolade, des Biers und des Surrealismus. Die jüdische Schule besuchte ich nicht, und auch den Sabbat hielten wir nicht ein, für uns war es ein Tag wie jeder andere. Allerdings gingen meine Mutter und ich regelmäßig in die Synagoge, und wir feierten zu Hause die wichtigen Feste wie den Neujahrstag Rosch ha-Schana, das Versöhnungsfest Jom Kippur, das Laubhüttenfest Sukkoth, das Lichterfest Chanukka und natürlich Pessach, das jüdische Osterfest. Vor allem meiner Mutter bedeuteten die Traditionen viel. Niemand verstand es, «gefilte Fisch», «Kneidlach» (Knödel aus ungesäuertem Teig), gehackte Leber und andere aschkenasische Speisen wie sie zuzubereiten, ganz zu schweigen von ihrer Hühnerbrühe, dem bekannten «jüdischen Allheilmittel». Mein eher pragmatischer, den weltlichen Dingen zugewandter Vater legte auf diese Dinge zwar keinen großen Wert, meiner Mutter zuliebe machte er jedoch mit.
    Wie viele meiner Freunde, die ebenfalls den jüdischen Gemeinden von Brüssel und Antwerpen angehörten, besuchte ich eine staatliche Schule und bewegte mich in einem liberalen Umfeld. Trotzdem war ich mir meiner jüdischen Identität stets bewusst. Ich erhielt eine humanistische Bildung, lernte Griechisch und Latein und brachte gute Noten nach Hause, obwohl ich mit dem Schulsystem, das ich vollkommen idiotisch fand, auf Kriegsfuß stand. Der Unterricht langweilte mich zu Tode, Rockmusik und Jungs interessierten mich mehr. Aufmüpfig schwänzte ich die Schule und spielte stattdessen Theater. Ich setzte meinen Kopf durch, suchte die Konfrontation und ging schon aus Prinzip ausschließlich mit nichtjüdischen Männern aus. Meine Eltern waren alles andere als begeistert.
    Auf keinen Fall wollte ich mich in eine Rolle fügen, die sie für mich vorgesehen haben könnten. Ich schätzte meine Eltern für ihr offenes Denken, für die vielen Reisen und die Unternehmungen, die mich geprägt hatten. Und doch kam für mich nicht infrage, deshalb einen jüdischen Mann aus guter Familie nach Hause zu bringen, wie es sich vielleicht gehört hätte.

    Ich zog früh von daheim aus und fing bei einer amerikanischen Firma im Sekretariat an. Meine Eltern wussten inzwischen, dass jede Widerrede zwecklos wäre, und ließen mir in allen Dingen freie Hand.
    Und so wurde eines Tages die Schweiz zu meiner neuen Heimat. Wieder einmal entschied der Zufall: Während eines Besuchs bei einer Freundin aus der Kindheit sollte eine unverhoffte Liebe meinem Leben eine entscheidende Wendung geben.
    Ich heiratete in der Schweiz und lebte mit meinem Mann in Lausanne. Doch mit zweiunddreißig Jahren starb er völlig überraschend an einem Hirnschlag. Das zog mir den Boden unter den Füßen weg. Zum ersten Mal wurde ich mit dem Tod konfrontiert, und von einem Tag auf den andern stand ich allein da. Glücklicherweise war meine Familie in der Zwischenzeit aus Belgien in
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