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Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Titel: Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)
Autoren: Uwe Steimle
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und den Goldenen Schneemann, womöglich für immer! Den Silbernen Schneemann konnte ich vielleicht gerade noch erwischen und an den neuen Jugendmode-Sonnenidee-Anorak heften, aber auch nur, weil ich über Kaugummitauschbilder verfügte. Seit geraumer Zeit hießen die bei uns nur noch Bubble Gum. Oma hatte unter Einsatz ihres Lebens die ganze Wildwestbubblegumkaugummitauschbilderserie beim Klassenfeind erworben und in den Osten geschmuggelt. Die komplette Karl-May-Serie plus Lex Barker. Karl May kehrte heim. Endlich! Und Sam Hawkins lag in Mathe immer unter meinem Lineal, nicht Chingachgook, die Große Schlange.
    Es war eine Tatsache, dass meine Eltern kaum Zeit hatten, sich um mich zu kümmern. Sie waren mit dem Aufbau des Sozialismus beschäftigt und mit der Verteidigung der Heimat.
    Das Gebot der Stunde lautete, das Vermächtnis von Karl Marx zu erfüllen und nicht das von Karl May, der zwar Sachse war, aber reichlich suspekt und gänzlich untauglich für die marxistisch-leninistische Bildung und Erziehung der Jugend.
    Einmal, es war im Jahre 2009, überfiel mich plötzlich eine wundersame Anwandlung: Ich versuchte mir klarzumachen, warum mir Rosa Luxemburg so ans Herz, ins Herz gewachsen war. Stellen Sie sich vor: Einen friedlichen Samstagvormittag in Dresden, Frühsommer 1969, die Jahreszeit, da man schon Blumenkohl paniert, Salzkartoffeln in zerlassene Butter lässt, und ein Hinterhausdoppelfensterflügel steht weit offen. Küchengeruch mischt sich mit Lindenduft, und der letzte Düsenjäger lässt noch einmal die Scheiben klirren – und sie durften auch nur klirren in Friedenszeiten – im Krieg würden sie nämlich springen; also musste am Samstagvormittag noch
einmal für den Weltfrieden geflogen werden. Und da, in diese Stimmung hinein, singt meine Mutter ein Lied mit, stimmt ein in ein Lied, welches aus dem Röhrenradio schallt:
    »Auf, auf zum Kampf, zum Kampf! Zum Kampf sind wir geboren.
    Auf, auf zum Kampf, zum Kampf! Zum Kampf sind wir bereit.
    Dem Karl Liebknecht, dem haben wir’s geschworen.
    Der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand.«
    Dazu haut sie die Schnitzel im Rhythmus des Liedes, das heißt, mit jedem Paukenschlag kriegt das Schwein eins drüber.
    Mutter singt, fröhlich, lachend, wie ich sie nur selten erlebt hab’, eine beseelte hoffnungsfrohe Stimmung, ich mittendrin, Vater nicht da, Mutter ausgelassen, Butter ausgelassen, Herz ausgelassen, mehr kann man nicht auslassen.
    Und nun wissen Sie, warum ich Rosa Luxemburg so verehre. Sie sorgte 1969 für Frieden in meinem Zuhause: Dresden-Trachauer Hinterhausfrieden. Mein Lieblingsessen bringe ich seitdem immer mit dieser tollen Stimmung in Verbindung. Es schmeckte gut, weil’s mir gut ging. Wenn die Vorbereitung gut lief, schmeckte auch der Hauptgang. Meistens folgte nach dem herrlichen Mittagsmahl der Verdauungsschlaf, dem ich auch heute noch huldige.
    Über dem Küchentisch hing ein Schild mit einem Spruch, auf dem zu lesen war: . . . Doch dazu später.
    Was heißt das, was hieß das, was da auf dem Schild stand, und kann der Sinn sich ändern?
    Stichwort«Petersilie«: Meine Mutter drückte mir ein ganzes Bund dieses Krauts in die Hand und sagte: »Na, iss ’s, iss gesund.« Ich saß da, fünf oder sechs Jahre alt, wollte gehorchen, und da ich zögerte, setzte meine Mutter nach: »Da ist Eisen drin, das brauchst du!«… Eisen? Ich saß da, biss in das Sträußchen, und mir ward, als biss ich in einen Blumenstrauß.
So weit, so schlecht … Das Zeug wurde immer mehr und schmeckte, weil es gar so stachelte im Mund, wie Igel. Aber ja, ich denke mir nichts aus. Beißen Sie mal als 5-Jähriger in einen Blumenstrauß Petersilie! Ihre Mutter sagt noch, da sei Eisen drin. Dann beißen Sie auf Nadeln, Stacheln aus Eisen – eh – Igel. Furchtbar! Vorbei die Idylle … Und dann, den Mund voll Igel, wende ich meinen Kopf nach rechts, und ich weiß, was da steht über der gelben Ölsockelwand mit dem kasslerbraunen Strich: »Lerne Schweigen, ohne zu platzen!«
    Ich war schlagartig zwei Jahre älter. Meine Mutter sah mich an, lachte aus vollem Halse und bedauerte, glaube ich, sowohl sich als auch mich. Mich, weil ich gar nichts mehr sagen konnte mit so viel Igel im Mund, und sich, weil sie das Wiegen hatte einsparen wollen, das Wiegen der Petersilie mit dem Wiegemesser, und ich hatte sie dabei ertappt.
    Apropos »Wiegen«: Im Sächsischen heißen Buletten »Wiegebraten«. Und Mutters Wiegebraten schmeckte immer wie gebraten, und zwar sehr gut
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