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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition
Autoren: M Twain
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einem Wort: groß; in allen anderen Dingen war er der Zwerg der Zwerge. Der echte Colonel Sellers, wie ich ihn als James Lampton kannte, war ein rührend schöner Geist, ein mannhafter Mann, ein aufrechter und ehrenwerter Mann, ein Mann mit einem großen, törichten, selbstlosen Herzen in der Brust, ein Mann, dazu geboren, geliebt zu werden; und er wurde von allen seinen Freunden geliebt und von seiner Familie angebetet. Das ist das richtige Wort. Für sie war er nur ein bisschen weniger als ein Gott. Der wahre Colonel Sellers stand nie auf der Bühne. Auf der Bühne stand nur die eine Hälfte von ihm. Die andere Hälfte konnte Raymond nicht spielen, sie überstieg seine Möglichkeiten. Diese Hälfte bestand aus Eigenschaften, die Raymond ganz und gar abgingen. Denn Raymond war kein mannhafter Mann, er war kein ehrenwerter Mann und auch kein ehrlicher, er war hohl und selbstsüchtig und gewöhnlich und ungehobelt und dumm, und wo sein Herz hätte sitzen sollen, gähnte Leere. Es gab nur einen einzigen Mann, der den ganzen Colonel Sellers hätte spielen können, und das war Frank Mayo. 2
    Die Welt steckt voller Überraschungen. Sie geschehen auch dann, wennman am wenigsten damit rechnet. Als ich Sellers in das Buch einführte, schlug Charles Dudley Warner, mit dem zusammen ich die Geschichte schrieb, mir vor, Sellers’ Vornamen zu ändern. Er war zehn Jahre zuvor in einem entlegenen Winkel des Westens einem Mann namens Eschol Sellers begegnet und fand, dass Eschol genau der richtige und passende Name für unseren Sellers sei, da er sonderbar und wunderlich klang und all das. Der Vorschlag gefiel mir, aber ich gab zu bedenken, der Mann könnte auftauchen und Einspruch erheben. Warner sagte, das könne nicht passieren, er sei zweifellos längst tot, ein Mann mit solch einem Namen könne nicht lange leben, und ob er nun tot sei oder am Leben, wir müssten den Namen einfach nehmen, es sei genau der richtige und wir könnten auf ihn nicht verzichten. So nahmen wir die Änderung vor. Warners Mann war ein gewöhnlicher einfacher Farmer. Das Buch war kaum eine Woche alt, da traf ein studierter, herzoglich ausgepolsterter Gentleman von vornehmen Manieren in Hartford ein, er war in heißblütiger Gemütsverfassung und hatte eine Beleidigungsklage im Blick, und
sein
Name war Eschol Sellers! Von dem anderen hatte er noch nie gehört und sich ihm bis auf tausend Meilen nie genähert. Das Vorhaben des geschädigten Aristokraten war ziemlich konkret und geschäftstüchtig: Die American Publishing Company müsse die gedruckte Auflage einstampfen und in den Druckplatten den Namen ändern oder mit einer Klage in Höhe von $ 10   000 rechnen. Der Mann nahm das Versprechen des Verlags und viele Entschuldigungen mit, und in den Druckplatten änderten wir den Namen wieder zu Colonel Mulberry Sellers. Offenbar gibt es nichts, was es nicht gibt. Selbst die Existenz zweier nicht verwandter Männer, die den unmöglichen Namen Eschol Sellers tragen, ist ein Ding der Möglichkeit.
    James Lampton schwebte sein Lebtag in einem farbigen Dunst herrlicher Träume und starb am Ende, ohne auch nur einen davon verwirklicht zu sehen. Ich begegnete ihm zuletzt 1884, sechsundzwanzig Jahre nachdem ich in seinem Haus eine Schüssel roher Steckrüben verzehrt und sie mit einem Eimer Wasser hinuntergespült hatte. Er war alt und weißhaarig geworden, kam aber genauso fröhlich wie eh und je zu mir herein und war noch ganz er selbst. Es fehlte nicht eine Einzelheit: das glückliche Leuchten in seinenAugen, die überreiche Hoffnung in seinem Herzen, die mitreißende Rede, die wundererzeugende Phantasie – das alles war vorhanden; und ehe ich mich versah, rieb er auch schon seine Wunderlampe und ließ die geheimen Reichtümer der Welt vor mir funkeln. Ich sagte bei mir: »Ich habe ihn in keiner Weise überzeichnet, ich habe ihn festgehalten, wie er war; und er ist noch ganz derselbe. Cable wird ihn wiedererkennen.« Ich bat ihn, mich einen Augenblick zu entschuldigen, und ging in Cables Zimmer nebenan. Cable und ich machten gerade eine Lesereise durch die Staaten der Union. Ich sagte:
    »Ich lass deine Tür offen, damit du zuhören kannst. Da drinnen ist ein interessanter Mann.«
    Ich ging zurück und fragte Lampton, was er denn jetzt so treibe. Er fing an, mir von einer »kleinen Unternehmung« zu erzählen, die er mit Hilfe seines Sohnes in New Mexico aufgezogen habe: »Nur eine kleine Sache – eine bloße Nebensächlichkeit –, teils um mir die Zeit zu
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