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Mein Jahr als Mörder

Mein Jahr als Mörder

Titel: Mein Jahr als Mörder
Autoren: Unbekannter Autor
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Pfadfindern der Empörung überlassen. Die werden mit müden, heiseren Stimmen gegen das Urteil protestieren, sollen sie, das ist in Ordnung, auch wenn es sinnlos ist. Sie werden ihre Ausrufungszeichen in die Luft malen, wie immer beleidigt und hilflos, die letzten Aufrechten, und dann nach Hause gehen, bis zum nächsten Fall, sie werden nicht lange warten müssen, bis irgendwo wieder ein Nazimörder freigesprochen wird.
    Catherine atmete gleichmäßig, ich berührte vorsichtig ihre Schulter, roch den begehrten Körper und versuchte mich zu beruhigen: Schlaf ein, schlaf ein, es gibt Besseres zu tun, als die Feinde von vorgestern zu verprügeln oder umzubringen, irgendeinen von hunderttausend frei herumlaufenden Verbrechern. Sollen die alten Hakenkreuzmänner sich weiter in ihre Ämter chauffieren lassen, sollen die Rentner ihre Spazierrunden drehen und sonntags die Messer vor dampfenden Schweinebraten wetzen, was geht es mich an!
    Da lässt sich nichts ändern, sagte ich mir, die kann man nicht alle einsperren. Es sind zu viele, sie sitzen überall, in Verwaltungen und Gerichten, in Konzernen und Universitäten, das ist kein Geheimnis. Eine banale Wahrheit, eine alltägliche Obszönität, ein lästiger Gemeinplatz, vergiss das. Nichts für dich, halt dich da raus. Sie haben teil an der Macht oder zehren von ihrer früheren Macht, sie dämmern in Chefsesseln, Polstergarnituren, Altersheimbetten dem Tod entgegen oder machen gute Geschäfte wie Hermann Josef Abs und wie Catherines Vater als Fachhändler für Haushaitswaren, der ein fleißiger Nazi-Bürgermeister gewesen ist irgendwo in der Oberpfalz. Sei ihm dankbar für seine schöne, kluge Tochter und vergiss ihn, vergiss diese Leute!
    Du strengst dich an zu vergessen, doch das Gegenteil geschieht. Diesen simplen Mechanismus kannte ich in jener Nacht noch nicht. Ich lenkte mich ab, suchte Schlaf, vergaß, sank weg - prompt schoss mir das entscheidende Bild in den Kopf: mein Freund Axel am Tisch der Mensa, neben uns die Zeitung, aufgeschlagen die Seite mit einer Überschrift zum beginnenden Prozess gegen diesen Richter, der am Volksgerichtshof mindestens 230 Todesurteile gefällt hatte. Sogleich stellte sich der Ton zu diesem Bild ein, der bittere, verächtliche Satz, den Axel hatte fallen lassen und der mich erst jetzt, im Bett, wie eine böse Erleuchtung traf: Der hat das Urteil für meinen Vater fabriziert, der und der Freisler.
    Die dunkle Geschichte von Axels Vater, den die Nazis umgebracht hatten, weil er gegen die Nazis kämpfte, war schon durch meine kindliche Seele gegeistert. Der Vater, das wusste ich inzwischen, hatte mit Robert Havemann und anderen eine Widerstandsgruppe gebildet und war dafür 1944, noch vor dem 20. Juli, hingerichtet worden.
    Nun erst, tief in der Nikolausnacht, begriff ich: Der war es, der Georg Groscurth hatte köpfen lassen! Den Vater meines besten Freundes! Hand in Hand mit Roland Freisler! Und kommt ohne Strafe davon!
    Jetzt erst lehnte sich das Kind in mir auf, könnte ich heute behaupten - und alles Weitere den Psychologen überlassen. Hellwach mit aufgerissenen Augen in der Dunkelheit ahnte ich, warum der Richter mich nicht losließ. Warum der mir wie ein Teufel auf dem Buckel saß. Warum das Flüstern mich verfolgte und zur Tat drängte.
    Nun hörte ich nicht mehr die Stimme des Nachrichtensprechers, sondern meine eigne: Einer wird diesen Mörder ermorden, und das werd ich sein.
    Kein besonders abwegiger Gedanke am Ende des Jahres, in dem Martin Luther King und Robert Kennedy ermordet wurden und beinah auch Rudi Dutschke, im Jahr der großen Massaker in Vietnam und Mexiko, im Jahr des Aufstands in Paris und des Widerstands in Prag gegen die russischen Panzer. Jeden Monat neue Verletzungen des Gerechtigkeitssinns, jeden Monat Wut und Erregung. Jedes dieser Dramen bestätigte den Wunsch nach Veränderung, Rebellion, Freiheit. Die Macht ist korrupt, ob in Moskau oder Washington oder Bonn oder Paris, die Repression richtet sich gnadenlos gegen jeden, der die schlichten Grundrechte verlangt. So einfach das Weltbild, so kompliziert war die Frage: Man muss sich wehren, aber wie?
    Ich wurde ruhiger und versuchte mir einzureden, dass eine solche Tat, wenn ich sie beginge, nichts weiter als eine gute Tat sei, ein kleiner Beitrag zur Aufklärung, zur Demokratie, zur Gerechtigkeit. Ähnlich wie die Tat der Beate Klarsfeld, die den Bundeskanzler geohrfeigt hatte, direkt vor der versammelten CDU-Mannschaft, vier Wochen zuvor.
    Auch das habe
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