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Mein grosser Bruder

Mein grosser Bruder

Titel: Mein grosser Bruder
Autoren: Berte Bratt
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lange gedauert, bis mir die Augen dafür aufgingen. Erst im Laufe der Zeit habe ich gelernt, Johannes zu verstehen.
    Aber im Anfang war ich ein richtiger Trottel.
    Ich habe in meinem ganzen Leben niemand getroffen, der pünktlicher gewesen wäre als Johannes. Man konnte die Uhr nach ihm stellen. Genau um 8.05 Uhr ging die Tür zum Speisezimmer auf, und Johannes sagte: „Guten Morgen, hast du gut geschlafen?“
    Dann erwartete er, daß die Kaffeekanne und das weichgekochte Ei um 8.06 Uhr auf dem Tisch standen.
    Bis Johannes mich an diese Pünktlichkeit gewöhnt hatte, verging eine ganze Weile. Wo sollte ich sie auch gelernt haben? Auf der Schule? Nun ja, gewiß! Aber die Schulzeit lag schon weit zurück. Ich hatte in England einen Haushalt geführt, gewiß, aber da gab es das Frühstück unregelmäßig. Die Familienmitglieder kamen, wann sie gerade Lust hatten, und aßen nur selten gemeinsam.
    Johannes dagegen verlangte von mir plötzlich eine Pünktlichkeit, wie es kein tyrannischer Ehemann ihm hätte gleichtun können. Um 8.35 Uhr ging er von daheim fort, um 17.25 Uhr hörte ich seinen Schlüssel an der Wohnungstür. Dann mußte das Essen um 18.30 Uhr auf dem Tisch stehen.
    Diese schreckliche Genauigkeit irritierte mich. Ich war ein junges Mädchen und kein justiertes Chronometer. Und Mamileins Blut pulsierte in meinen Adern – das schlug ganz und gar nicht wie ein Uhrwerk.
    Merkwürdig: es ging dennoch! Freilich gab es Augenblicke, in denen ich vor Wut schäumte, aber – ich hatte und habe Johannes lieb. Ich habe wohl auch ein paar Eigenschaften von Vater geerbt. Ich fühlte mich wohl in dem geregelten Leben. Am ersten Morgen unseres gemeinsamen Haushaltes streckte ich mich zehn Minuten zu lange in Mamileins Riesenbett. So konnte ich gerade noch rasch in einen Bademantel schlüpfen, mir die Hände waschen und einen Kamm durch die Haare ziehen, ehe ich in die Küche eilte, um das Frühstück zu richten. Ich tat es so, wie ich es gewöhnt war: setzte zwei Tassen und zwei Teller auf den Küchentisch, legte das Brot auf ein Brettchen, die Butterschale daneben, holte die Sahneflasche, ein Restchen Käse, ein Glas Marmelade – und war fertig. Eine andere Form des Frühstückens kannte ich nicht.
    Johannes erschien in der Tür. Er sah von mir auf den Tisch, vom Tisch auf mich.
    „Na, hast du verschlafen?“
    „Aber nein, hier bin ich ja. Der Kaffee ist fertig. Bitte!“
    Johannes setzte sich, rückte die Sachen auf dem Tisch etwas anders und sah mich prüfend an.
    „Weil du keine Zeit hattest, dich anzuziehen, meine ich.“
    „Du stirbst wohl nicht, wenn du mich im Bademantel siehst!“ Noch verstand ich nicht, worauf er hinauswollte, und schenkte Kaffee ein. Johannes schwieg eine Weile, trank ein paar Schlucke Kaffee und strich sich ein Butterbrot.
    „Ich möchte gern, daß wir im Speisezimmer frühstücken“, sagte er schließlich. „Und ich würde es nett finden, wenn du angezogen dabeisäßest.“
    Lieber, lieber Johannes! Warum halfst du mir nicht, dich besser zu verstehen? Warum halfst du mir nicht auf die Sprünge? Warum hast du nicht auf die Loyalität gepfiffen und das gesagt, was du über Mamilein dachtest?
    Ich habe mein ganzes Leben in Schlamperei verbracht. Laß mich nun endlich fühlen, wie es ist, wenn man ein anständiges, bürgerliches Leben führt. Ich habe meine Mutter zu allen Tageszeiten in luftigen Negliges herumflattern sehen. Laß mich meine Schwester in einem netten Hauskleid sehen.
    Du hast es nicht gesagt, Johannes. Du hast immer zu wenig gesagt. Und ich habe dich nicht verstanden. Ich war ein junges, dummes Gänschen – und Mamileins Tochter.
    Aber das gutbürgerliche Frühstück bekamst du jedenfalls vom nächsten Tag ab, und wäre ich nicht so erzdumm und egozentrisch gewesen, würde ich Tränen in die Augen bekommen haben über dein glückliches Lächeln, als du mich in einem huschen, blauen Hauskleid und mit einer Schürze am Kaffeetisch vorfandest.
    Ich hätte begreifen sollen, wieviel Dank in deiner Handbewegung lag, als du mir beim Fortgehen schnell und scheu über die Haare strichst.
    Die ersten Tage hatte ich genug zu tun. Es war lustig, selbst die Verantwortung zu haben: Einkäufe zu machen, das Haus instand zu halten, zu kochen, kurz gesagt: eine richtige Hausfrau zu sein. Und ich lüge nicht, wenn ich sage, daß Johannes und ich es nett und gemütlich hatten. Wir lebten ruhig, friedlich und regelmäßig.
    Aber bald arbeitete ich mich ein, gewöhnte mich daran, und –
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