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Mein grosser Bruder

Mein grosser Bruder

Titel: Mein grosser Bruder
Autoren: Berte Bratt
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die Haare.
    „Verstehst du denn gar nichts, Vivi?“ sagte er, und seine Stimme war so, daß ich vergaß, wütend zu sein.
    Ich sah ihn fragend an.
    Da begann Johannes zu reden, ruhig, nüchtern, beinahe wissenschaftlich.
    In einem Ohrenlehnstuhl kniend, die Arme auf die Rücklehne gestützt – es war die einzige Stellung, die sich im Augenblick für mich eignete –, bekam ich aus dem Mund meines klugen Bruders zu hören, was „junge Frauen wissen müssen“.
    Als Johannes mit seinem Vortrag fertig war, hatte sich meine Wut gelegt. In dieser halben Stunde war ich viel, viel klüger geworden.
    „Du mußt versuchen, nicht böse zu sein, weil ich dir den Hintern versohlt habe, Vivi“, sagte Johannes zum Schluß. „Du hast mich zu Tode erschreckt.“
    „Ich bin nicht böse, Johannes“, sagte ich.
    Damals war ich also zwischen dreizehn und vierzehn. Als ich sechzehn war, machte ich mein Examen in der Realschule. Gerade zu dieser Zeit war ein neuer „Onkel“ in unserem Heim aufgetaucht. Er kam oft und blieb lange. Mamileins Augen waren blauer denn je und appellierten intensiver denn je an den Beschützerinstinkt des „großen, starken Mannes“.
    Johannes veranlaßte, daß ich in ein Internat gesteckt wurde. Dort sollte ich mich in weiblichen Fertigkeiten vervollkommnen. Als ich nach einem Jahr zurückkam, „sweet seventeen“ und, unglaublich genug, noch ungeküßt, war der neue Onkel von der Bildfläche verschwunden, und es war wieder Johannes, der auf Mamilein achtgab.
    Dann kam ich, wieder auf Johannes’ Betreiben, nach England. Dort war ich in einem Haushalt tätig. Als ich heimkam, war ich ungefähr neunzehn.
    Bis dahin hatten sich also keine großen Ereignisse in meinem Leben abgespielt, jedenfalls nicht seit Mamileins und Vaters Scheidung und seit Vaters Tod.
    Aber dann änderte sich vieles schlagartig.
    „Johannes“, sagte ich, „glaubst du, daß es diesmal Ernst ist bei Mamilein?“
    Johannes schaute von der Zeitung auf. Es war Abend, und wir beide waren allein daheim. Mamilein war irgendwo, mit dem Großkaufmann Bergum. Sie war zur Zeit in einer blankäugigen Periode und schwebte herum mit einem glücklichen und hilflosen Kleinmädchenlächeln in ihrem süßen Gesichtchen.
    „Schon möglich“, antwortete Johannes.
    „Was würdest du denn dazu sagen, Johannes?“
    „Wozu?“
    „Ja, ich meine, was würdest du sagen, wenn Mamilein sich wieder verheiratet?“
    „Dazu ist wohl nicht viel zu sagen, es würde sicher das beste für sie sein.“
    „Ja“, sagte ich, „es wäre gut für sie, wenn sie in… in…“
    „… in geordnete Verhältnisse kommen könnte“, vollendete Johannes, „in einen Hafen, sozusagen.“
    „So, daß wir ihretwegen beruhigt sein könnten“, ergänzte ich. Weder Johannes noch ich empfanden das Komische dieses Gesprächs. Wir waren so sehr daran gewöhnt, auf Mamilein aufzupassen, gewöhnt an ihre Impulsivität, ihre Hilflosigkeit und… nun ja, wir waren an dies und jenes gewöhnt und hatten aufgehört, uns zu wundern.
    Der Großkaufmann Bergum war verliebt wie ein Gymnasiast, das war sonnenklar. Er war „der große, starke Mann“, der sich mit Wonne um Mamileins wohlmanikürten kleinen Finger wickeln ließ.
    Großkaufmann Bergum hatte eine Villa, gleich außerhalb der Stadt, und ein solides Geschäft. Er war ein Mann so ungefähr um die Fünfzig, geschieden und mit einer Tochter, die inzwischen verheiratet war und im Ausland wohnte.
    Alles war danach angetan, daß Mamilein glücklich werden konnte.
    „Was sollen wir dann tun, Johannes?“ fragte ich.
    Johannes legte die Zeitung weg. Seine Antwort kam prompt, ganz ohne Zögern – es war klar, daß er diese Frage schon gründlich durchdacht hatte.
    „Wir behalten die Wohnung hier. Du führst den Haushalt, und ich kümmere mich um die Finanzen.“
    Gut. Dazu hatte ich nichts zu sagen. Ich fand’s eigentlich auch das beste.
    Wir schwiegen beide.
    „Johannes“, sagte ich schließlich, „hast du Mamilein lieb?“ Es lag ein sonderbares Lächeln um Johannes’ Mund, als er antwortete. „Sie ist ja meine Mutter.“ Mehr sagte er nicht.
    Als Mamilein zwei Tage später heimkam, mit leuchtend blanken Augen, zerzausten Locken und einem neuen Brillantring, waren Worte ziemlich überflüssig.
    Sie wollte sich nächsten Monat mit Alfred Bergum verheiraten.
    Wir gratulierten, nett und aufrichtig. Johannes stand, groß und breitschultrig, ruhig und zuverlässig, und sah herunter auf Mamileins errötetes, lächelndes
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