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Meeresrauschen

Meeresrauschen

Titel: Meeresrauschen
Autoren: Patricia Schröder
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Mähne gebändigt hatte, stand
von ihrem Stuhl auf und brachte die Teller zur Spüle. »Meine
liebe Elodie«, sagte sie und in meinen Ohren hörte sich das
fast wie eine Drohung an. »Du bist nun seit fast fünf Wochen
hier bei mir, und ich bilde mir ein, dich inzwischen ein bisschen
zu kennen.«
    Ich erhob mich ebenfalls und griff nach der Schale mit dem
restlichen Auflauf.
    »Vielleicht wäre es gut, wenn du dir einen Job suchst«, schlug
sie vor. »Das würde dich bestimmt ablenken.«
    Ich atmete tief ein und überlegte, was ich darauf antworten
sollte. Im Grunde war dies kein schlechter Vorschlag, der Zeitpunkt
passte nur nicht. Solange ich auf Gordy wartete, würde
ich mich garantiert auf keine noch so simple Tätigkeit konzentrieren
können.
    »Du fragst ja gar nicht, wovon es dich meiner Meinung nach
ablenken soll«, setzte Tante Grace augenzwinkernd hinzu.
»Traust dich wohl nicht.«
    »Von Pas Unfall natürlich«, gab ich zurück, obwohl ich
natürlich
genau wusste, dass sie Cyril meinte, und war selbst ganz
erstaunt darüber, wie leicht mir das über die Lippen kam.
    »Natürlich
nicht
«, widersprach meine Großtante energisch.
»Trauer darf man nicht zur Seite drängen, sondern muss sie
durchleben. Mit allem, was dazugehört. Nur darum hast du
die Schule unterbrochen und bist hierhergekommen … Wenn
ich dich erinnern darf …«
    Sie hatte ja recht! Der Tod meines Vaters hatte mich geradezu
paralysiert. Zu Hause in Lübeck war ich wie in mir selbst
gefangen gewesen, unfähig, das Ganze zu begreifen. Doch seitdem
ich Gordy kannte, seitdem ich in ihm endlich jemanden
gefunden hatte, der mir zuhörte, mit dem ich über alles reden
konnte und der mir keine goldenen Tipps, sondern einfach
nur das Gefühl gab, dass er mich verstand, kam ich viel besser
damit zurecht.
    Okay, ganz sicher war ich nicht der Typ, der solche Dinge
im Turbogang verarbeitete, aber immerhin, ich machte Fortschritte.
    Pas grüner Kapuzenpulli lag nicht mehr im Schrank, sondern
unter meinem Kopfkissen. Jede Nacht holte ich ihn
hervor und kuschelte mich hinein. Auf diese Weise war mein
Vater immer bei mir – manchmal bildete ich mir sogar ein,
dass er daheim in Lübeck saß und auf mich wartete.
    »Was ist bloß los mit dir?«, hörte ich Tante Grace sagen.
    Verwirrt sah ich sie an. Ich stand noch immer vor der Anrichte
und hatte die Hände um die Auflaufform gelegt. »Ähm,
wieso?«
    »Na, du bist völlig in dich versunken und merkst nicht einmal,
dass ich mit dir rede«, erwiderte sie und deutete auf die
Rolle Alufolie, die sie neben mich auf die Arbeitsfläche gelegt
hatte. »Du bist tatsächlich noch nicht darüber hinweg,
stimmt’s?«
    »Nein«, sagte ich.
    Meine Großtante nickte – und schwieg, wofür ich ihr sehr dankbar war. Sie kannte die wahren Zusammenhänge nicht, sondern ging schlicht davon aus, dass ich in Cyril verliebt war,
er diese Gefühle aber nicht erwiderte.
    »Ich werde ihn trotzdem treffen«, setzte ich hinzu. Und
damit war die Sache entschieden.

    In dieser Nacht träumte ich wieder von Gordy, und seltsamerweise
spürte ich diesmal sofort, dass es nur ein Traum war und
keine Realität.
    Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, ich sah nur, wie er
durchs Wasser glitt. Gordy war schnell. Rasend schnell. Und
er wurde verfolgt: von Hunderten silbrigen Leibern, die hinter
Riffen hervorschossen oder sich aus der tiefblauen Dunkelheit
des Meeres herausschälten und nicht weniger schnell waren
als er.
    Ich wusste, sie würden ihn kriegen, aber ich lag schlafend in
meinem Bett und konnte ihm nicht helfen. Stöhnend warf ich
mich hin und her und kämpfte darum, endlich aufzuwachen,
doch die Traumbilder ließen mich nicht los.
    Und dann merkte ich mit einem Mal, dass etwas über mir
war. Ein Schatten! Er packte mich an den Hüften, zerrte mich
vom Bett herunter und schleifte mich ins Meer. Ich spürte
seine Hände auf meinem Körper und seine Lippen auf meinem
Mund. Unbarmherzig strömte eisiges Wasser meinen Rachen
hinunter und füllte meine Lungen.
    Ich wehrte mich nach Leibeskräften, versuchte, mich aus
dem Klammergriff zu befreien – und plötzlich war ich wach.
    Ich saß aufrecht im Bett, mein Herz raste, ich keuchte und hustete und mein Shirt und das Bettzeug unter mir fühlten sich klatschnass an.
    Im selben Moment – wie die Inszenierung in einem Kitschfilm
– brachen die Wolken auf und gaben ein Stück des anthrazitfarbenen
Himmels frei. Mitten darin stand der Mond und
hüllte das aufbrausende Meer, die
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