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Marx fuer Eilige

Marx fuer Eilige

Titel: Marx fuer Eilige
Autoren: Robert Misik
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der Totalherrschaft der Gegenwart. Zukunft in einem eminenten Sinn ist – just zum Anbeginn eines neuen Jahrtausends – vom Horizont verschwunden. Alles was wir mit ihr verbinden, ist letztlich ein »mehr desselben«, ein
»more of the same«
, wie die Briten sagen. Das treibt oft paradoxe Blüten: So haben es die Ökologiebewegung und die Technologiekritik vermocht, für jeden ganz einsichtig zu machen, daß der Weltuntergang, eine atomare Apokalypse etwa, wenn schon nicht wahrscheinlich, dann doch zumindest eine mögliche, realistische Aussicht sei, die sich jeder vorstellen kann; gleichzeitig scheint den allermeisten völlig undenkbar, daß auch nur Details an der Funktionslogik des globalen Kapitalismus verändert werden können. Daß der Kapitalismus ewig ist, scheint unabweisbar; was die Erde betrifft, ist das nicht so sicher.
    Kurzum: Eine gesellschaftliche Neuerung, wie sie Marx beschrieben hat, die dem Willen selbstbewußter Subjekte entspringen würde, ist heute ziemlich weitgehend aus dem gedanklichen Horizont der westlichen Gesellschaften entschwunden. Deshalb ist alle Analyse, noch die ambitionierteste, so seltsam lau, und jeder Versuch, sich auf die Höhe unserer Zeit aufzuschwingen, verstärkt den intellektuellen Phantomschmerz noch. Darum müssen förmlich alle Versuche, sich an Marx zu messen, scheitern. Denn dieser junge Mann aus einer frisch assimilierten |18| jüdischen Familie, der sich in den frühen vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts – gerade erst 25 Jahre alt – daran machte, die Philosophie und die ökonomische Wissenschaft seiner Zeit zu revolutionieren, und der in nicht viel mehr als den zweieinhalb Dekaden, die darauf folgten, dem Denken förmlich einen neuen Kontinent eroberte, lebte doch in einer anderen Art von Epoche: Sie hatte ein Bewußtsein davon, daß sie eine Wendezeit sei, die alle Brücken in die Vergangenheit abreißen würde, sie war aber auch beseelt von der Zuversicht, daß mit ihr die
Vorgeschichte der Menschheit
, die Zeit der Borniertheit, Unaufgeklärtheit, Unwissenheit und der Unfähigkeit der Menschen, ihre Geschicke selbst zu bestimmen, ein Ende nehmen würde. Diese frischfröhliche Zukunftszuversicht ist den Heutigen gründlich ausgetrieben worden. Mit ihr ist auch jenes eminente Beginnergefühl, die geistige Rücksichtslosigkeit, jenes revolutionäre Genie verlorengegangen, ohne die das Marxsche Abenteuer nicht denkbar gewesen wäre.
    Die Darstellung der Marxschen Gedanken- und Lebenswelt, die auf den folgenden Seiten versucht wird, erhebt darum auch keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Wer genau wissen will, was Marx sich unter »Diktatur des Proletariats« vorstellte und welche Maßnahmen er vorschlug, die die siegreiche Arbeiterklasse sofort nach erfolgreicher Revolution durchzuführen habe, wird hier kaum fündig werden; warum Marx glaubte, daß schon in der kapitalistischen Dynamik – etwa durch die zunehmende Kooperation innerhalb des vielfach kombinierten Arbeitsprozesses – die Bedingungen geschaffen würden, die eine sozialistische Reorganisation des Gesellschaftslebens |19| förmlich erzwingen werden, wird auch nur kursorisch gestreift, ebenso die Vorhersage der notwendig zunehmenden »Verelendung« der Arbeiterklasse. Dafür versuche ich jene Aspekte der Marxschen Hinterlassenschaft zu entstauben, die frappierend aktuell für unsere Gegenwart sind. Was kann uns der Marxsche Begriff der
Entfremdung
über die seltsame Übellaunigkeit sagen, der wir allerorten in unseren Gesellschaften begegnen? Welche inneren Bewegungsgesetze zwingen den Kapitalismus, wie ein Wirbelwind über den Globus zu fegen und jede Grenze, an die er stößt, zu überwinden? Und was ist dieser Kapitalismus überhaupt? Keine oktroyierte Ordnung, sondern ein Zusammenhang, der sich aus den Verhältnissen, die die Menschen eingehen, gleichsam wie von selbst ergibt – ein Netzwerk aus Beziehungen von Beziehungen, ökonomischen und sozialen Wechselwirkungen, das, obwohl von Menschen gemacht, den Menschen als schier unveränderbares Äußeres gegenübertritt: als System, beseelt mit einem Eigensinn, an dem sich nicht nur die Macht der Schwachen, sondern letztlich auch die der Starken bricht. Und warum ist dieses System des Kapitalismus so erfolglos und erfolgreich zugleich? Warum schafft es Reichtum, während es viele ins Elend stürzt und Millionen in Lebensbedingungen beläßt, unter denen sie leiden? Und warum ist es dennoch auf kolossale Weise stabil und instabil zugleich?
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