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Marx fuer Eilige

Marx fuer Eilige

Titel: Marx fuer Eilige
Autoren: Robert Misik
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bekanntgegeben wird, folgt eine Re-Interpretation von Marx’ Werk, eine Neubewertung dieser Tradition und, was das Wichtigste ist, wird die Doktrin durch neue Probleme ersetzt. Der Tod scheint dem Marxismus ein neues Leben zu eröffnen.« 5
    Sowohl die Fülle als auch die Unfertigkeit des Marxschen Œuvres erleichtern diese ewige Erneuerung. Abgesehen von der ökonomischen Analyse, die er noch zu seinen Lebzeiten abgeschlossen bzw. weitgehend zu einem System ausformuliert hatte, so daß Friedrich Engels nach Marx’ Tod die Bände zwei und drei des »Kapital« relativ mühelos aus den Manuskripten fertigstellen konnte, blieben viele Aspekte der Marxschen intellektuellen Revolution offen: seine Ideologietheorie, seine Geschichtsphilosophie, seine Staatstheorie und sein dialektisches Prinzip. Diese hatte er nie in einem endgültigen System dargelegt, |15| sondern nach und nach in polemischer Auseinandersetzung mit geistigen Strömungen seiner Zeit, oft in tagesaktuellen Schriften, entwickelt. Seine Texte waren reich an Gedanken, aber auch offen – für Mißinterpretationen, für geistige Geiselnahme, aber eben auch für neue Interpretationen. Diese Offenheit und Fähigkeit zur Erneuerung ist freilich nicht nur eine gleichsam unintendierte Folge von Marx’ frühem Tod, weil der ihn daran hinderte, seine Gedanken systematisch auszuformulieren, sondern sie ist im Marxschen Unternehmen immanent angelegt. Denn Marx’ Werk ist – um es mit Engels’ Worten zu sagen – im Kern von der Überzeugung geleitet, »daß die Welt nicht als ein Komplex von fertigen
Dingen
zu fassen ist, sondern als ein Komplex von
Prozessen
«. 6 So ist die
Unfertigkeit
gewissermaßen ein notwendiges Resultat des Marxschen geistigen Abenteuers.

    Die Erneuerbarkeit und Reanimierbarkeit von Marx Gedanken, deren Anschlußfähigkeit an neue Probleme, ist die Voraussetzung jeder Aktualisierung, die notwendige Bedingung einer jeden Marx-Renaissance. Sie reicht dafür freilich nicht aus. Herrschte in der Welt nicht das Bewußtsein vor, daß sie vor neuen Problemen steht, die schwer zu begreifen und noch schwerer zu lösen sind, wäre unsere Zeit mit sich völlig im reinen, dann würde das Interesse an Marx sich auf eine allein literarische, geistesgeschichtliche Lektüre bescheiden. Dann wäre Marx so lebendig wie Tutanchamun oder Thomas von Aquin – er wäre vielleicht ein Objekt bildungsbürgerlicher Beflissenheit, aber keine Herausforderung mehr: es wäre so absurd, sich einen neuen Marx zu wünschen, wie es grotesk |16| ist, von einem Tutanchamun für das einundzwanzigste Jahrhundert zu träumen.
    Brisant ist die Marx’sche Hinterlassenschaft jedoch aufgrund des Epochenbruchs, in dem wir stehen, jener Zeitenwende, die alle spüren und die kaum jemand auf den Begriff zu bringen vermag, die aber eine erstaunliche Gier nach Weltdeutung zur Folge hat. Die zahllosen Studien und Bücher über den »Durchbruch zur Weltgesellschaft« und die »Krise der Arbeit«, das »globale Zeitalter« und die »Wissensökonomie«, über die »Ökonomisierung aller Lebensbereiche«, den globalisierten »Casinokapita lismus « und die »Krise der Nationalstaaten« füllen bereits ganze Bibliotheken, und es finden sich in diesem Fundus der neueren Gesellschaftsanalysen erstaunliche Arbeiten wie der im Jahr 2000 erschienene viel diskutierte Theorieband »Empire« von Michael Hardt und Antonio Negri und solch ambitionierte Großstudien wie das dreibändige Werk »Das Informationszeitalter« des spanischstämmigen Berkeleyprofessors Manuel Castells. Dieser beschreibt minutiös den neuen Innovationsschub, der keinen Stein auf dem anderen beläßt, Produktion in ein Netzwerk von Strömen verlagert und alle Menschen und Völker an einen Maschenraum anschließt, der Mega-Städte, Innovationszentren, Konglomerate umfaßt: »Die Netzwerke bilden die neue soziale Morphologie unserer Gesellschaften«, schreibt er. 7 Das Erstaunlichste an diesen intellektuellen Großversuchen sind aber gar nicht so sehr die Bücher selbst, sondern die bemerkenswerte Rezeption, die sie erfahren. Sie wären nichts ohne den Hunger des Publikums, den sie zu stillen versuchen. Es gibt ein Bedürfnis, das Funktionieren der Welt zu verstehen – |17| der ganzen Welt, nicht nur einzelner Aspekte oder Sub-Systeme.
    Doch dieses Bewußtsein, an der Schwelle zu einer neuen Etappe in der Menschheitsgeschichte zu stehen, kontrastiert auf seltsame Weise mit einem Gefühl der geschichtlichen Leere. Wir leben in
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