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Marienplatz de Compostela (German Edition)

Marienplatz de Compostela (German Edition)

Titel: Marienplatz de Compostela (German Edition)
Autoren: J.M. Soedher
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Paradies; es hätte ein Paradies sein können.
    Obwohl es sommerlich warm war und im Schatten einer Linde Gartenmöbel standen, wurden sie ins Haus gebeten. Das Düstere, Beklemmende, das zu besprechen war, duldete keine Sommersonne, kein Vogelgezwitscher, kein fideles Lachen von Kindern, wie es aus einem entfernten Grundstück in Bruchstücken herüberschallte.
    Das Wohnzimmer war quadratisch angelegt. In der Ecke lag einsam und traurig leer eine Hundedecke.
    Ein gepflegter Dielenboden zog feine Linien, die Wände verstrahlten mattes Weiß und waren mit Gemälden geschmückt: oberbayerische Landschaften – Seen, Weiden, Kühe, im Hintergrund schneebedeckte Gipfel. Über die Jahrzehnte hin gut erhaltene Erbstücke, wie es Bucher vorkam. Auch das Mobiliar war alt; jedes Stück mit Geschichte und Geschichten behaftet.
    Es roch nach Kaffee. Helles Kaffeegeschirr stand am Tisch bereit. Schlichte Eleganz, deren Quelle in Frau Blohm zu finden war, die die Begrüßung übernommen hatte und in unaufdringlicher Weise den dominanteren Part des Ehepaars ausmachte. Ihre glatten grauen Haare fielen bis zur Schulter und auch ihr Mann war bereits vollständig ergraut. Bucher wunderte sich, denn die beiden waren seiner Schätzung nach höchstens Anfang, Mitte fünfzig.
    Alles was er bisher gesehen hatte, war stimmig: Garten, Haus, Einrichtung – es passte zu den beiden Menschen, die ihre Unsicherheit und Angst hinter beklommener Höflichkeit verbargen. Als sie das Wohnzimmer betreten hatten, war sein Blick kurz zu Lara gegangen, deren Lippen sich zu einer kurzen enttäuschten Bewegung verleiten ließen. Er wusste, was ihr suchender Blick nicht hatte finden können – Fotos. Auch er hatte am Sideboard, an der Wand und in der Vitrine nach Familienfotos gesucht, was es ermöglicht hätte, sich in unauffälliger Weise schon vor Beginn des Gesprächs ein Bild von Anne Blohm und ihrer Familie zu machen.
    Vom Wohnzimmer aus öffnete eine breite gläserne Schiebetüre den Zugang in den Garten. Sie war geschlossen. An der Wand daneben zog eine Büchervitrine Buchers Interesse auf sich. Kein profanes Möbel, sondern eine Weihestätte, ein heiliger Ort der Literatur. Hinter dünnen, fleckenfreien Glasscheiben ruhten die leinengebundenen Ausgaben europäischen Literaturschaffens. Von grauen, sandfarbenen, blauen und roten Buchrücken leuchteten in goldenen Lettern Autorennamen und Titel. So etwas machte immer noch Eindruck, und ganz besondere Ausstrahlung hatten jene Bände, die abgegriffen waren und damit ihre rege Benutzung dokumentierten.
    Bucher hatte einen umständlichen Weg zu dem ihm zugewiesenen Stuhl gewählt und war fast um den ganzen Tisch herumgelaufen – nur, um einen Blick auf diese Bücher zu erhaschen. Oben links las er Tolstoi, Gogol, Dostojewski, Scholochow, Bakunin und rechts unten erfassten seine Augen die französische Ecke mit Victor Hugo, Dumas, Baudelaire, Ronsard, und – große Überraschung – Camus. Buchers Gedanken verließen für einen Augenblick München. Der gute alte Camus lag in einem schlichten Grab unter provenzalischer Sonne in Lourmarin, eine Rose vertrocknete auf dem hellen Steinriesel um die Grabplatte.
    In diesem Haus hier wirkte eine Ordnung, die einerseits so strikt war, einem aber andererseits nicht als aufdringlich, aufgesetzt oder antiseptisch erschien. Bucher zweifelte für einen Moment: Lag Hartmann vielleicht richtig mit seiner schnoddrigen Bemerkung, dass es das Recht einer erwachsenen Frau war, für eine gewisse Zeit einer solchen Ordnung oder dem ordnenden Geist zu entkommen, mehr noch zu entfliehen und sich damit der elterlichen, mütterlichen Kontrolle und Sorge zu entziehen? Und waren das nun Bücher, in diesem Glasschrein – Bücher, die wirklich dem Lesen dienten, oder ging es lediglich um die Schaffung einer Bildungsaura?
    Als sie schweigend um den Tisch saßen, bemerkte er bei sich eine eigenartige Hemmung das Gespräch zu eröffnen. Derlei Skrupel hatte er bislang nicht verspürt und während er zusah, wie sich Kaffee und Sahne in der Tasse miteinander vermischten, wurde ihm deutlich, dass er es bisher immer mit Hinterbliebenen zu tun gehabt hatte. Seine bisherigen Gesprächspartner hatten allesamt einen Menschen durch Tod verloren und dieser Fakt, diese Wahrheit, machte das Reden an sich, das Fragen und Insistieren einfacher, weil die Beteiligten von dieser Tatsache wussten. Hier jedoch saß er Angehörigen gegenüber, hinter deren Furcht immer noch eine große Hoffnung
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