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Marienplatz de Compostela (German Edition)

Marienplatz de Compostela (German Edition)

Titel: Marienplatz de Compostela (German Edition)
Autoren: J.M. Soedher
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eigene Stimme zu hören. Dann kroch sie wieder zurück auf die Matte und lehnte sich an die Wand. Nun, da sie ihre Beschäftigung mit sich selbst zu Ende gebracht hatte, war Zeit und Raum für die Umgebung. Von oben her kamen wieder die metallischen Schläge und das Vibrieren des Bodens. Das harte metallische Geräusch klang wie der Schlag einer gesprungenen Glocke. Sie selbst befand sich in einem Keller. So viel wusste sie. Es musste ein großes Gebäude sein mit mächtigen Maschinen, die über ihr eine mechanische Arbeit verrichteten.
    Sie schloss die Augen und begann mit dem Programm. Was konnte man tun, in der Dunkelheit, in Gefangenschaft, in der Einsamkeit, dem Tod nahe? Was konnte man tun? Sie rezitierte leise Gedichte, Liedstrophen, dumme Texte aus Poesiealben und wunderte sich, wie viel sie noch aus den Ecken ihres Gedächtnisses zusammenkramen konnte. Einst auswendig gelernt, weil man musste, weil man beeindrucken wollte, weil man lieb sein wollte – jetzt zeugte es einen zynischen Nutzen.
    Ein Geräusch drang durch die Betongänge, ein Geräusch, das sie inzwischen kannte. Der lange Metallschlüssel, den er immer dabeihatte, war gegen die Metalltür gestoßen. Für einen Moment wurde ihr Atem flach und kurz, sie zog die Beine an und drückte ihren Rücken gegen die Wand, dass es schmerzte. Über den Schmerz fand sie zu sich selbst. Auch das eine neue Erfahrung. Sie biss die Zähne zusammen und kippte nach vorne auf die Knie. So war es möglich, ohne Zuhilfenahme der Hände aufzustehen. Soweit es die Kette erlaubte, entfernte sie sich von der Wand. Sie musste ihn stehend empfangen, das verschaffte ihr ein Mindestmaß an Kontrolle. Und ihre Stimme musste klar und streng klingen, ohne bösartigen oder boshaften Schwung. Das hatte sie herausgefunden. Was sie noch nicht wusste, war, wie weit sie gehen konnte. Heute wollte sie es ausprobieren.
    Er trat in den Raum und wich ihren Blicken aus. Er wollte heute auch etwas ausprobieren.

Handschrift
    Johannes Bucher saß im schmucklosen Büro seines Abteilungsleiters Hans Weiss.
    Dessen Stimme hörte er wie von fern und er tat sich schwer dem Gespräch die erforderliche Aufmerksamkeit zu schenken. Weiss berichtete von einer vermissten Frau.
    Was hatten denn sie im Landeskriminalamt mit einer vermissten Frau zu tun? Das war doch wohl die Aufgabe der zuständigen Kripo vor Ort.
    Immer wieder entglitten ihm die Gedanken und führten ihn in den sommerlichen Garten, der das alte Haus über dem Lech umgab. Jetzt, im Juni, blühte alles, was konnte, ungezügelt. Unzählige Farbpunkte leuchteten aus einem fetten Grün, darüber lag der würzig-süße Duft von frischem Gras, Blütenstaub und Nektar, der einen Leichtigkeit verspüren ließ. Auch diesen Morgen hatte das Geschrei des Buchfinken wieder alles übertönt. Seit das Jahr warm geworden war, schmetterte er sein eintöniges kurzes Lied in unendlichen Wiederholungen in die Morgendämmerung. Manchmal ertappte Bucher sich dabei, wie er die einfältige Melodie summte oder leise pfiff. Es gab Tage, an denen der Kerl richtig nervte. Pünktlich um vier Uhr dreiundzwanzig erscholl sein Gesang und dann murmelte Bucher etwas von seiner Dienstwaffe daher und dem großen Kaliber. Es war endlich richtig Sommer geworden. Auch im Garten hoch über dem Lechbogen. Die Wärme hatte jede Ecke, jeden Winkel erobert. Jetzt, im Juni, lag über allem die Süße der Lindenblüten – sogar hier in der Stadt wehte sie einen an.
    Heute Morgen, noch vor der Fahrt nach München, hatte er den Rosen, den Lilien, dem irischen Mohn und den Akeleien noch einen kurzen Besuch abgestattet. Ein solches Verlangen hatte er bisher nie verspürt, doch in diesem Jahr, das bisher vor allem grau und regnerisch dahergekommen war, empfand er die Natur anders – als hätte er mit einem Mal einen persönlichen Bezug zu diesen Pflanzen bekommen und es war ihm kaum vorstellbar, es könnte ein guter Tag werden, ohne zu schauen und zu riechen, bevor es nach München ging.
    Außerdem war Miriam für einige Tage unterwegs und somit lag die Verantwortung für Haus und Garten auf seinen Schultern. Eine nicht geringe Motivation besondere Fürsorge zu zeigen.
    Die Stimme von Hans Weiss erreichte ihn aus weiter Ferne: »Santiago de Compostela … Pilgerin … die Eltern … Kollegen .. verschwunden.«
    Er streckte seine Beine, verrückte den Stuhl und setzte sich aufrecht hin. Ganz ungewollt atmete er laut dabei aus; viel lauter als es höflich gewesen wäre, denn
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