Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mantramänner

Mantramänner

Titel: Mantramänner
Autoren: J Hagedorn
Vom Netzwerk:
jeweiligen Ultraschalluntersuchungen, dass ich mich nicht gewundert hätte, wenn sie irgendwann offizielle Pressemitteilungen in eigener Sache herausgegeben hätte: »Enorme Wachstumsraten bei Sunny Side: Jetzt schon zweiundzwanzig Zentimeter«, irgendwo zwischen Mandelblüte auf Mallorca und All-inclusive in Alma-Ata.
    IPS musste so etwa im fünften oder sechsten Monat sein, die Kantinenfrauen standen allerdings schon jetzt kurz vor der nervenbedingten Frühpensionierung. Die mussten nämlich jeden Mittag in die Küche traben, um eine lange Liste von Fragen zu recherchieren: Rohmilch? Irgendwas Geräuchertes? Innereien an Bord? Babynahrung war eine Wissenschaft für sich, und das scheinbar schon weit vor der Geburt. Die Kantinenfrauen sehnten sich mindestens so sehr nach der baldigen Elternzeit wie IPS selbst.
    »Du bist doch nur neidisch«, hatte Anna haarscharf analysiert, als ich mich neulich auf ein gepflegtes Lästerstündchen in der Teeküche mit ihr zurückziehen wollte.
    Hatte ich natürlich abgestritten. Aber insgeheim fürchtete ich: Da war was dran.
    Beim Heraustreten aus der Drehtür nickte mir IPS huldvoll zu, dann schritt sie vor mir an die Garderobe im Foyer und öffnete ihren weit schwingenden Mantel. Dabei drehte sie sich halb zu mir herum. »Königin Mutter« prangte in Glitzerbuchstaben quer über ihrem Busen. Einen Moment lang blickte sie mich an, so als wollte sie noch dringend etwas loswerden. Doch ich hatte keinen Bedarf an neuen Details aus dem Bauchraum. Rasch streckte auch ich der griesgrämigen Grauhaarigen hinter der Theke meine Jacke entgegen und wandte mich eilig ab, weil ich gerade Anna gesehen hatte.

    Mit einer Freundin an meiner Seite würde ich die ein, zwei Alibistunden hier schon überstehen. Meinetwegen sogar, wenn ich dabei über Yoga reden musste. Oder zuschauen, wie sie networkte. Besser als mit meinem Chef über SUVs plaudern. Oder nicht jugendfreie Websites.
    »He, Sie, Frollein!« Ich drehte mich noch einmal um. Die Garderobenfrau wedelte mit einem kleinen, blauen Papier. »Frollein, Ihr Märkchen!«
    Das hatte ich doch glatt vergessen. Ich versuchte, mich noch einmal zu ihr durchzudrängeln, was aber gar nicht so einfach war. Denn gerade stürzten sich so viele Leute mit Mänteln über dem Arm auf die Frau, als wäre gerade ein voller Sunny-Side-Reisebus angekommen.
    »Entschuldigung«, sagte ich zu dem Rücken mit dem blonden Lockenkopf obendrauf, der sich gerade zwischen mir und der Garderobe aufbaute, »können Sie mir mal eben das Zettelchen da geben?«
    Er drehte sich um, und ich erschrak zutiefst.
    Ich hätte in dieser Situation jeden angesprochen. Im Notfall wäre ich nicht mal vor Frau Stöver aus der Lohnbuchhaltung zurückgeschreckt, mit der mich seit meiner Lehrzeit eine erbitterte Feindschaft verband. The Dark Side of Sunny Side.
    Aber dass sich ausgerechnet ein Mann zu mir umdrehen würde, der genau so aussah, wie ich mir schon immer den Vater meiner Kinder vorgestellt hatte, das war nun wieder ein bisschen viel des Guten.
    Anzugträger mit frechem Jungsgesicht – diese Kombination setzte mich grundsätzlich schachmatt. Und selten hatte ich sie in so gelungener Form an einem lebendigen Menschen gesehen. Wo kam der denn her? Warum hatte ich den mittags noch nie in der Kantine gesehen? Hatte er eine Essstörung? Oder versteckte Sunny Side solche Prachtexemplare in einer der Filialen am Stadtrand, um die Frauen in der Zentrale nicht vom Arbeiten abzuhalten?
    Er sah mich einen Augenblick lang an, als hätte er meine Frage nicht verstanden. Oder als ob ihm gefiel, was er sah. Oder beides.
    »Du«, sagte er dann mit sanfter Stimme, »ich find’s total gut, dass du das hier so offen und ehrlich ansprichst.«

    Hilfe, wie war der denn drauf? Redete wie der Leiter einer Volkshochschulselbsthilfegruppe! War das vielleicht einer von den neuen Reiseleitern? Bekamen die in ihren Kommunikationsschulungen jetzt so etwas beigebracht? Dann bemerkte ich den Schalk in seinen Augen und verstand. Das war so etwas wie ein gelungener Aufschlag beim Tennis, der Auftakt für ein Spiel. Das konnte er haben.
    »Ja«, gab ich zurück, »das hab ich beim angstfreien Töpfern gelernt. In der Toskana.«
    »Ich glaube«, grinste er und reichte mir das blaue Zettelchen, »du und ich, wir haben uns viel zu geben. Übrigens, ich bin Chris.«
    Ich starrte auf seine Hände. Und hatte sofort unanständige Gedanken.
    Unversehens war aus dem Pflichttermin die spannendste Begegnung seit Monaten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher