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Mainfall

Mainfall

Titel: Mainfall
Autoren: Dieter Woelm
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ein. Ich sah den Strom, der mir fast zum Verhängnis geworden war. Leicht trug er einen Lastkahn Richtung Frankfurt. Einen Moment lang kämpften sich einige Sonnenstrahlen durch den herbstlich grauen Himmel. Sie ließen den Fluss glänzen wie eine silberne Schlange, beleuchteten die Willigisbrücke, das Schloss, den Nachbau einer römischen Villa am Ufer und streiften auch mich.
     
    Ich verabschiedete mich vom Main und erreichte über den Schlossplatz die Altstadt von Aschaffenburg, durchstreifte die Steingasse, die Herstallstraße, aß in der ›Nordsee‹ ein Fischbrötchen, spazierte in den romantischen Gassen auf und ab, bis ich schließlich in die Dalbergstraße und zum Stiftsplatz gelangte. Über dem Platz thronte die Stiftskirche. Die Heiligen, St. Peter und St. Alexander, grüßten mich feierlich, als ich mich anschickte, die Treppen zur Basilika emporzusteigen.
    Schön war Aschaffenburg, das musste ich zugeben, auch wenn ich mir diese Stadt nicht ausgesucht hatte. Doch was half mir das? Wo sollte ich wohnen? Tatsächlich im Aussiedlerheim? Die Adresse hatte man mir im Krankenhaus gegeben, allerdings hielt mich irgendetwas davor zurück. Ich glaube, es war so etwas wie Stolz, der in meiner Brust wohnte und der mir sagte: ›Nicht in ein Heim, nein, ganz bestimmt nicht in ein Heim.‹
     
    Also schmiedete ich andere Pläne. Ich kaufte mir eine Taschenlampe in einer Eisenwarenhandlung, außerdem einen billigen Regenmantel mit großen Innentaschen, um dem nächsten Regen zu trotzen. Zusätzlich in einem Supermarkt in der City-Galerie zwei Fläschchen Mineralwasser, einen Notizblock, einen Kugelschreiber, zwei Brötchen und beim Metzger zwei Paar Landjäger. Kugelschreiber und Notizblock verstaute ich in der Brusttasche meines Anzuges, die übrigen Einkäufe in den Innentaschen des Regenmantels.
    Da das Schloss um diese Jahreszeit nur bis 16 Uhr besichtigt werden konnte, hatte ich es sehr eilig, vor allem, weil ich mindestens eine halbe Stunde früher da sein musste. Kurz vor 15.30 Uhr hastete ich zum Haupteingang des Schlosses, löste an der Kasse eine Eintrittskarte und stieg die breite Treppe in den ersten Stock empor. Die Gemälde der Staatsgalerie, die dort im Main-Flügel ausgestellt waren, interessierten mich im Augenblick allerdings nicht. Der einzige Gedanke, der mich trieb, war die Frage, wo ich hier einen ruhigen Platz für die Nacht finden könnte.
    Die Räume der Gemäldegalerie waren, abgesehen von den Bildern an den Wänden, völlig leer, also zum Verstecken nicht geeignet. Die Korkmodellsammlung im zweiten Obergeschoss bot mit ihren gläsernen Vitrinen ebenfalls keinen Unterschlupf, dann schon eher die Fürstlichen Wohnräume im Mainflügel. Erschwerend kam hinzu, dass auf jedem Stockwerk eine Museumswärterin eingesetzt war, die hier ihre Runden drehte oder manchmal, auf einem Stuhl in einer Ecke sitzend, die Besucher beobachtete. Deshalb musste ich mich unauffällig bewegen und den Eindruck erwecken, als interessierte ich mich für die Ausstellungsstücke.
    Nach einem Rundgang durch das zweite Obergeschoss kehrte ich in den ersten Stock zurück. Das war sicher nicht ungewöhnlich und die dortige Aufseherin nahm auch keine besondere Notiz von mir. Sie mochte so um die 50 Jahre alt sein, sah etwas vergrämt aus, war jedoch nicht unfreundlich, sondern nickte mir sogar aufmunternd zu, während ich an ihrem Sitzplatz vorbeiging.
    Wenn die wüsste, tanzten Gedanken in meinem Hirn.
    Es war inzwischen kurz vor vier. Bald würden die Museen schließen. Jetzt wurde es ernst. Ich eilte durch die Räume der Gemäldegalerie, trat auf die Empore der Schlosskirche, sah Christus am Altar und flehte ihn um Hilfe an. Danach huschte ich in den Schauraum, in dem kostbare kirchliche Gewänder, die Paramenten, ausgestellt waren. Auch hier fand ich keine Möglichkeit, mich zu verstecken. Die Gewänder waren unter Glasvitrinen drapiert, sodass man sich nicht darunter verbergen konnte. Sonst war nichts in diesem Raum. Meine letzte Chance war das Nebenzimmer, in dem ebenfalls solche Paramenten gezeigt wurden, nämlich drei Ornate verschiedener Mainzer Kurfürsten und Erzbischöfe. Aber auch diese wurden durch mannshohe Glasvitrinen geschützt und boten keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Am liebsten hätte ich mich im Boden verkrochen, wäre klein wie eine Ameise geworden, hätte mich hinter eine Fußleiste geflüchtet, aber das war nicht möglich. Doch dann sah ich den beigebraunen Vorhang, der die Fensternische
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