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Mainfall

Mainfall

Titel: Mainfall
Autoren: Dieter Woelm
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war mir nicht hold. In den nächsten Tagen konnte ich zwar die Intensivstation verlassen und es ging mir gesundheitlich zunehmend besser, aber es kam kein Besuch, niemand meldete sich, keiner schien mich zu kennen. Dafür klopften grausame Fragen an die Tür meines Lebens. Wer würde für meine Behandlung bezahlen? War ich versichert? Wo würde ich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus Unterschlupf finden? Man hatte mich inzwischen auf die Neurologie verlegt, zahlreiche Untersuchungen durchgeführt, aber alles ohne Erfolg. Ich konnte mich einfach an nichts erinnern! Sogar mit Elektroschocks hatte man es versucht und mir bewusstseinsverändernde Medikamente gespritzt, dennoch blieb alles ohne brauchbare Resultate. Ich hatte daraufhin zwar wirre Träume gehabt, doch ein Bezug zu meiner Vergangenheit war nicht festzustellen gewesen.
    Auch Kommissar Rotfux war keinen Schritt weitergekommen. Er hatte zwar ermittelt, dass mein Anzug aus einer Kleiderfabrik in der Nähe von Aschaffenburg stammte, aber die Firma lieferte gehobene Anzüge in ganz Europa an gute Fachgeschäfte.
    So schnürte sich mir die Kehle täglich mehr zu, fast als ob mich jemand zum zweiten Mal unter Wasser drücken wollte. Ich besaß keinen Cent, was mir schmerzlich bewusst wurde, als ich den Shop in der Eingangshalle des Klinikums besuchte und dort feststellte, dass ich mir nicht einmal eine Zeitschrift kaufen konnte oder etwas Obst. Mein Leben war zwar gerettet worden, was nach Aussagen der Ärzte an ein Wunder grenzte, aber was war das für ein Leben?
    Ohne Geld!
    Ohne Freunde!
    Ohne Verwandte!
    Ohne Vergangenheit und ohne Hoffnung!
     
    In meinen Tagträumen sah ich ein Altersheim vor mir, mit diesen jämmerlichen Gestalten, die ihre Kinder nicht mehr erkannten, die nicht mehr wussten, wer sie waren, nur noch einen Tag nach dem anderen lebten, einsam und allein in ihrer kleinen Welt. Ich dagegen war nicht alt. Die Ärzte schätzten mich auf 35.
    »Sie können nochmals neu anfangen«, machten sie mir Mut. »Sie müssen nur Geduld haben.«
     
    So näherte sich der Tag der Entlassung. Die Wäscherei des Krankenhauses hatte meine Kleidung gewaschen und den Anzug gereinigt und aufgebügelt. Vom Sozialamt hatte ich fürs Erste 300 Euro erhalten und ein Zimmer im Aussiedlerheim der Stadt Aschaffenburg angeboten bekommen.
    Wenn es so etwas wie einen absoluten Nullpunkt im Leben gab, hatte ich ihn offensichtlich erreicht, jedenfalls kam es mir so vor. Ratlos spazierte ich am Vortag der Entlassung im Park des Krankenhauses umher, um mich wieder an die Natur draußen zu gewöhnen. Die kühle Herbstluft zog mir unter den Bademantel und ließ mich frösteln. Der Herbstwind wirbelte die goldgelben, herzförmigen Blätter einer Birke durch den Park, bedeckte den Rasen damit, so als ob es gelb geschneit hätte. An einem Rollator kam mir ein Mann entgegen, vielleicht 45 Jahre alt, leichenblass, mit aufgeblähtem Bauch, der ebenfalls diesen Blätterregen bewunderte.
    »Alles hat seine Zeit«, sagte er zu mir und lächelte.
    Zunächst verstand ich nicht ganz, was er meinte, doch als wir ins Gespräch kamen, erzählte er mir, dass ihn der Darmkrebs schon ziemlich zerfressen hatte, es mit der Verdauung und dem Stuhlgang überhaupt nicht mehr klappte und er das Schlimmste befürchtete.
    »Wenn nur meine Kinder nicht wären«, seufzte er. »Das ist für mich am schwersten, aber man kann es nicht ändern.« Er machte eine Pause. »Wieso sind Sie hier?«, wollte er von mir wissen.
    »Ach, nichts von Bedeutung«, gab ich zur Antwort. Es kam mir plötzlich lächerlich vor, ihm von meinem Problem zu erzählen.
    »Aber irgendetwas müssen Sie doch haben«, ließ er nicht locker.
    »Ja schon, natürlich, aber es ist nicht der Rede wert.«
    »Nun reden Sie schon, mein Lieber«, ermunterte er mich nochmals. »Geteiltes Leid ist halbes Leid.«
    »Ich wäre fast ertrunken«, gestand ich. »Man hat mich aus dem Main gefischt. Vielleicht haben Sie es in der Zeitung gelesen.«
    »Ach, Sie sind das!«, sagte er überrascht. »Ja, natürlich, davon habe ich gehört. Und Sie können sich an nichts erinnern …«
    »Nein, an nichts. Ich weiß nicht einmal meinen Namen.«
    »Ist ja Wahnsinn«, stammelte er. »Trotzdem würde ich mit Ihnen tauschen.«
    »Obwohl Sie Ihre Kinder nicht mehr kennen würden?«
    Jetzt zögerte der Krebskranke. »Ich weiß nicht«, flüsterte er auf einmal kaum hörbar. »Vielleicht ist doch alles gut so, wie es ist …«
    Zum Abschied zog er seinen Geldbeutel
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