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Magna Mater - Roman

Magna Mater - Roman

Titel: Magna Mater - Roman
Autoren: C. Bertelsmann
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Vergänglichkeit. Zur Verwirklichung dieses Wunschtraums erschuf man sich früher unsterbliche Götter, die ewiges Leben versprachen. Wir haben dieses elementare Bedürfnis vom Aberglauben befreit. Aber alle Kultur will Ewigkeit. Die altägyptische währte Jahrtausende, in denen unvergängliche Bauten wie die Pyramiden errichtet wurden. Ihre Tugend lautete: Lebendiges bewahren. Fortschritt ist Sünde.«
    Mater Meta Nicarda verlangte: »Sprecht mir nach! Fortschritt ist Sünde.« Und wir wiederholten ihre Worte im Chor.
    »Bis zur Erfindung der Dampflokomotive gab es keine höhere Reisegeschwindigkeit als die eines galoppierenden Pferdes. Flugzeuge flogen fast hundertmal schneller. Nur wenig später umrundeten Weltraumsatelliten die Erde, mehrmals an einem Tag. Diese schwindelerregende Geschwindigkeitszunahme ereignete sich auf allen Gebieten. Riesige Fabriken produzierten immer schneller, immer mehr. Das Rad des sogenannten Fortschritts drehte sich immer hektischer und wahnwitziger. Die Erde wurde von Jahr zu Jahr unbewohnbarer.
    Jede Epoche hat ein bestimmtes, ihr eigentümliches Verhältnis zur Zeit. Überschreitet das Tempo eine bestimmte Geschwindigkeit, so zerfällt die bestehende Kultur. Die alte Menschheit hatte diese Schwelle überschritten. Der Fortschrittswahn hätte sie beinahe umgebracht. Wir haben das verhindert.«
    So sprach Nicarda zu uns, und die Art, wie sie dabei ihre großen, faltigen Hände bewegte, hinterließ einen tiefen Eindruck auf meiner Kinderseele.
    Unter den vielen Alten im Monasterium gab es eine junge Ordensfrau, die sich von den anderen so augenfällig abhob wie ein blühender Obstbaum in einem dunklen Tannenwald. Vielleicht kam mir das damals auch nur so vor, denn ich hatte ja bis dahin nie einen Menschen kennengelernt, der sich altersmäßig von den anderen unterschied. Sie hatte eine Mädchenstimme, und ihre Hände waren so glatt wie meine eigenen. Wenn sie lachte, und sie lachte oft, bewegte sich der Schleier vor ihrem Gesicht wie eine Fahne im Wind. Am erfreulichsten aber war ihr Unterricht. Beim Anblick eines Huhnes sagte sie:
    »Eine heutige Henne unterscheidet sich in nichts von einer antiken. Sie trägt seit Jahrhunderten das gleiche Federkleid, bevorzugt und verschmäht das gleiche Futter. Hühner haben niemals neumodische Nester gebaut oder eckige Eier gelegt. Sie leben mit einer bewundernswert gleichbleibenden Haltung. Die Singvögel kommen nicht jede Saison mit einer neuen Melodie heraus, und die Störche fliegen nicht dieses Jahr nach Süden und nächstes Jahr in den Osten. Und würden die Bienen den Standpunkt vertreten: Wir wollen keine Königin mehr, es lebe die Demokratie!, so würden sie keinen Honig mehr produzieren.«
    Lehrbücher gab es nicht, denn wir mussten das Lesen ja erst noch erlernen. Eine Kunst, die nur der Orden beherrscht. Den Blühenden wird alles Wissenswerte mündlich vermittelt. Für sie gilt: Spitzt eure Ohren! Lesen ist eine einsame Erfahrung. Keiner ruft: Wer Augen hat zu lesen, der lese! Aber es heißt: Wer Ohren hat zu hören, der höre! Kannst du nicht hören? Heißt: Kannst du nicht gehorchen?
    Vor allem für uns Novizinnen gab es viel zu hören und zu gehorchen. Gelehrt wurde nach dem Grundsatz: Wenn du die Menschen glücklich machen willst, dann beschenke sie nicht, sondern beschneide ihre Wünsche. Um gesund zu bleiben, kann man gar nicht wenig genug essen. Zu viel Schlaf macht träge.
    Ich lernte, dass in Seeland an die zehntausend Blühende leben, von denen uns viermal jährlich einhundert verlassen, während gleichzeitig einhundert neue Menschlein ins Leben gehoben werden. Das geschieht grundsätzlich bei Vollmond. Das Leben der Blühenden liegt ganz in den Händen der Reifen.
    Und dann ist da natürlich noch die kleine Schar der Novizinnen, der ich fast zehn Jahre lang angehörte. Das erste Jahr verbrachte ich mit den anderen auserwählten Mädchen im Tympanon, dem Bienenhaus, einem Bau mit Kammern wie Honigwaben: eng aneinandergedrängt und doch getrennt. Es war das erste Mal, dass ich die Nacht allein in einer Zelle verbringen musste. Ein schmerzhaftes Erlebnis! Bis dahin hatte ich mit den anderen Kindern so eng zusammengelebt wie die Blumen in einem Beet.
    Danach holt sich jede Ordensfrau eine Novizin in ihr Haus, denn es ist nicht gut, dass der noch Blühende allein sei, ein Urbedürfnis aus der Zeit, in der die Menschen noch paarweise als Mann und Frau zusammenlebten. Heute ganz und gar unvorstellbar, denn es gibt im Orden keine
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