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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau
Autoren: B Akunin
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Großstädte. Freilich zwang strafrechtliche Verfolgung diese Vereinigungen zu strenger Konspiration. Nach unseren Informationen gab es (und gibt es vielleicht noch) »Selbstmörderklubs« in London, Wien, Brüssel, in Paris, Berlin und sogar in dem provinziellen Bukarest, wo das »russische Roulette« als modisches Vergnügen reicher junger Offiziere gilt.
    Den größten Ruhm genoß der Londoner Klub, der jedoch von der Polizei aufgespürt und zerschlagen wurde, nachdem er zwei Dutzend seiner Mitglieder dazu verholfen hatte, sich ins Jenseits zu befördern. |13| Die Entlarvung der Todesanbeter gelang nur durch Verrat. Einer der Anwärter hatte die Unvorsichtigkeit begangen, sich zu verlieben, was zur Folge hatte, daß er brennende Zuneigung zum Leben und grimmige Abneigung gegen den Tod faßte. Dieser Abtrünnige fand sich bereit auszusagen. Dabei kam heraus, daß der streng geheime Klub lediglich Mitglieder zuließ, die es mit ihrem Entschluß nachweislich ernst meinten. Die Reihenfolge wurde durch das Los entschieden: Man spielte Karten, und der Gewinner erhielt das Recht, als erster zu sterben. Alle gratulierten ihm und veranstalteten zu Ehren des »Glückspilzes« ein Bankett. Der Tod wurde, um unerwünschte Gerüchte zu vermeiden, als Unglücksfall getarnt, an dessen Organisierung sich die übrigen Mitglieder der Bruderschaft beteiligten: Sie ließen einen Ziegel vom Dach fallen, überfuhren den Auserwählten mit der Kutsche und dergleichen.
    Etwas Ähnliches trug sich im österreichisch-ungarischen Sarajewo zu. Dort gab es eine Selbstmörderorganisation, die sich »Klub der Wissenden« nannte und mindestens 50 Mitglieder zählte. Sie pflegten sich abends zu versammeln, um das Los zu ziehen – jeweils eine Karte, bis das Todesblatt kam. Wer die verhängnisvolle Karte gezogen hatte, mußte binnen 24 Stunden sterben. Ein junger Ungar verkündete seinen Kameraden, er scheide aus dem Spiel aus, denn er habe sich verliebt und wolle heiraten. Sie willigten nur unter der Bedingung ein, daß er noch einmal an der Verlosung teilnehme. In der ersten Runde zog der junge Mann das Herz-As, das Symbol der Liebe, doch in der zweiten das Todesblatt. Er war ein Mann von Ehre und erschoß sich. Die untröstliche Braut zeigte die »Wissenden« bei der Polizei an, und so gelangte die traurige Geschichte an die Öffentlichkeit.
    Wie die Vorgänge der letzten Wochen in Moskau deutlich machen, scheuen unsere Todesanbeter die öffentliche Meinung nicht, jedenfalls treffen sie keine Maßnahmen, um ihr Wirken zu kaschieren.
    Ich verspreche den Lesern des »Kuriers«, daß die Untersuchung weitergeht. Wenn sich in unserer Metropole tatsächlich eine geheime Liga |14| von Wahnsinnigen etabliert hat, die mit dem Tode spielen, muß die Öffentlichkeit das erfahren.
    Lawr Shemailo
    »Moskauer Kurier« vom 22. August (4. September) 1900, S. 1, Forts. S. 4

2.
Aus dem Tagebuch von Colombina
    Sie traf an einem stillen fliederblauen Abend in der STADT DER TRÄUME ein
    Alles war beizeiten bis ins kleinste bedacht worden.
    Als Marja auf dem Rjasaner Bahnhof aus dem Irkutsker Zug gestiegen war, blieb sie einen Moment stehen, kniff die Augen zu und sog den Geruch von Moskau ein – es roch nach Blumen, Schmieröl, Kringeln. Dann öffnete sie die Augen und deklamierte so laut, daß es den Bahnsteig entlangschallte, den Vierzeiler, den sie drei Tage zuvor geschrieben hatte, als der Zug die Grenze zwischen Asien und Europa überquerte.
    In der Tiefe schäumendes Gähnen
    Zertrümmert im Schiffsunglück
    Ohne Worte, Bedauern und Tränen
    Im Fallen, im Flug – kein Zurück!
    Nach dem tönenden Fräulein mit dem dicken Zopf drehte man sich um, neugierig oder mißbilligend, und ein kleiner Kaufmann tippte sich gar mit dem Finger an die Schläfe. Gleichwohl darf Maschas erste
öffentliche Aktion
im Leben, wenn es auch nur eine winzige war, als gelungen gelten. Warten Sie ab, was noch kommt.
    |15| Die Handlung war symbolisch, mit ihr begann eine neue Epoche, die riskant und rigoros war.
    Abgereist war sie in aller Stille, ohne jede Öffentlichkeit. Für Papa und Mama hatte sie auf dem Tisch im Salon einen überlangen Brief zurückgelassen. Darin versuchte sie alles zu erklären – das neue Jahrhundert, die Unmöglichkeit ihres Dahinvegetierens in Irkutsk, die Poesie. Die Blätter waren mit ihren Tränen beträufelt, doch die Eltern würden es nicht verstehen. Wäre Mascha einen Monat eher geflohen, vor ihrem Geburtstag, so wären sie zur Polizei gelaufen,
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