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Märchen

Märchen

Titel: Märchen
Autoren: Astrid Lindgren
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mit der Blumen-stickerei gelegt und mit der hellgrünen Seidendecke zugedeckt.
    Da lag nun Pia mit ihrer abgeschlagenen Nase und ihren angemalten Augen und starrte hinauf an die Decke, als könne sie nicht glauben, daß dies alles wahr sei.
    Im Land der Dämmerung
    anchmal sieht Mama so richtig traurig aus. Daran ist nur mein Bein schuld. Ein ganzes Jahr lang habe ich M nun dieses kranke Bein. So lange liege ich schon im Bett. Ich kann überhaupt nicht gehen. Das macht Mama traurig.
    Einmal hörte ich sie zu Papa sagen: »Weißt du, ich glaube, Göran wird niemals wieder gehen können.«
    Das sollte ich natürlich nicht hören.
    Den ganzen Tag liege ich in meinem Bett und lese oder male und baue mit dem Stahlbaukasten. Wenn es dämmerig wird, kommt Mama herein und fragt:
    »Wollen wir Licht machen, oder willst du Dämmerstunde halten wie immer? «
    Und dann antworte ich, daß ich Dämmerstunde halten will wie immer.
    Mama geht wieder in die Küche.
    Und in dem Augenblick klopft Herr Lilienstengel ans Fenster.
    Herr Lilienstengel gehört zum Volk der Dämmerung. Er wohnt im Land der Dämmerung. Man nennt es auch das Land, Das Nicht Ist. Jeden Abend nimmt mich Herr Lilienstengel mit ins Land der Dämmerung.
    Nie werde ich vergessen, wie er mich das erstemal abholte. Das war übrigens genau an dem Tag, als Mama gesagt hatte, ich werde wohl niemals wieder gehen können. Und so ist es zugegangen: Es begann zu dämmern. In den Zimmerecken war es schon ganz dunkel. Ich wollte kein Licht haben, weil ich gerade gehört

    hatte, was Mama zu Papa draußen in der Küche gesagt hatte, und ich lag da und dachte nach, ob ich wirklich nie mehr würde gehen können, und ich dachte auch an die Angel, die ich zu meinem letzten Geburtstag bekommen hatte und die ich nun vielleicht nie benutzen konnte, und - ja, es ist schon möglich, daß ich ein bißchen geweint habe.
    Da hörte ich am Fenster ein Klopfen. Wir wohnen oben, im dritten Stock. Deshalb wunderte ich mich. Wer in aller Welt konnte da draußen ans Fenster klopfen?
    Es war kein anderer als Herr Lilienstengel! Er kam geradewegs durchs Fenster. Obwohl das Fenster geschlossen war. Er war ein sehr kleiner Herr mit einem karierten Anzug und einem hohen schwarzen Hut auf dem Kopf. Er nahm den Hut ab und verbeugte sich.
    Ich verbeugte mich auch - so gut ich es in meinem Bett konnte.
    »Mein Name ist Lilienstengel«, sagte er. »Ich spaziere überall hier in der Stadt so ein bißchen an den Fenstern vorbei, um nachzusehen, ob es Kinder gibt, die ins Land der Dämmerung wollen. Vielleicht möchtest du?«
    »Ich kann leider nirgendwo hingehen«, sagte ich. »Ich habe ein krankes Bein.«
    Aber da kam Herr Lilienstengel zu mir und nahm mich bei der Hand. »Spielt keine Rolle«, sagte er. »Spielt gar keine Rolle im Land der Dämmerung.«
    Und so stiegen wir beide durchs Fenster, ohne es zu öffnen. Auf dem Fenstersims blieben wir stehen und sahen uns um. Da lag Stockholm in der Dämmerung, in einer ganz weichen, blauen Dämmerung. Auf den Straßen war kein Mensch zu sehen.
    »Jetzt fliegen wir«, sagte Herr Lilienstengel.
    Und das taten wir. Wir flogen bis hinauf zum Turm der Klara-Kirche. »Ich will nur mal kurz ein paar Worte mit dem Wetterhahn reden«, sagte Herr Lilienstengel.
    Aber der Wetterhahn war nicht da.
    »Er macht sicher seine Dämmerrunde«, sagte Herr Lilienstengel.
    »Er wird irgendwo herumflattern, um hier im Klaraviertel zu sehen, ob es Kinder gibt, die ins Land der Dämmerung wollen.
    Komm, wir fliegen weiter.«
    Wir landeten auf einem Baum im Kronobergspark. Auf den Bäumen dort wuchsen rote und gelbe Bonbons.
    »Iß«, sagte Herr Lilienstengel.
    Und das tat ich. So gute Bonbons habe ich noch nie gegessen.
    »Hast du Lust, mal eine Straßenbahn zu steuern?« fragte Herr Lilienstengel.
    »Das kann ich nicht«, sagte ich. »Das hab ich noch nie versucht.«
    »Spielt keine Rolle«, sagte Herr Lilienstengel. »Spielt keine Rolle im Land der Dämmerung.«
    Da flogen wir zur Sankt-Erik-Straße hinunter und stiegen in einen Straßenbahnwagen der Linie 4. Wir stiegen ganz vorn ein. In der Straßenbahn waren keine Menschen - keine gewöhnlichen Menschen, meine ich. Aber sie war voll von lauter wunderlichen kleinen Männlein und Weiblein.
    »Sie gehören alle zum Volk der Dämmerung«, sagte Herr Lilienstengel.
    Einige Kinder waren auch dabei. Ein Mädchen erkannte ich. Sie war in der Klasse unter mir gewesen - damals, als ich noch zur Schule gehen konnte. Ich erinnere mich, daß
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