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Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)

Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)

Titel: Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)
Autoren: Sam Harris
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Aufrichtig seine Meinung zu verkünden heißt, seine innersten Überzeugungen ohne Schönfärberei wiederzugeben. Aufrichtig sein bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass die eigenen Vorstellungen über Gott und die Welt richtig sind. Und es bedeutet auch nicht, dass man immer die
ganze
Wahrheit sagt, denn es ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, alle Fakten eines bestimmten Themas zu kommunizieren, vom Sinn eines solchen Unterfangens einmal ganz abgesehen.
    Doch genug der Mehrdeutigkeiten: Es besteht ein gewaltiger Unterschied darin, ob man das kommuniziert, was man als wahr und authentisch empfindet oder ob man in der Kommunikation seine ehrliche Meinung kaschiert oder verzerrt. Die
Absicht
, ehrlich miteinander zu kommunizieren, ist das Maß an Aufrichtigkeit. Die meisten Menschen benötigen keinen Abschluss in Philosophie, um ein solches Verhalten von seinen falschen Geschwistern zu unterscheiden.
    Menschen lügen aus den unterschiedlichsten Gründen, zum Beispiel, um peinliche Situationen zu vermeiden, um ihre Leistungen zu beschönigen und um ihre Fehler zu verschleiern. Oder sie geben Versprechen, die sie definitiv nicht einhalten wollen. Sie kaschieren die Mängel ihrer Produkte oder Dienstleistungen. Sie führen ihre Mitbewerber in die Irre, umsich einen Wettbewerbsvorteil zu sichern. Viele von uns lügen Freunde und Verwandte an, weil sie deren Gefühle nicht verletzen wollen.
    Doch ganz gleich, welcher Zweck mit einer Lüge verfolgt wird, es gibt Lügen im großen Stil und ganz subtile. Manche Lügen sind im Prinzip nichts anderes als raffinierte Kniffe, doch streng genommen ist auch die Urkundenfälschung eine Lüge, wenngleich eine im großen Stil. Wieder andere dienen eigentlich nur als Euphemismen, und auch taktisches Schweigen ist im Grunde eine Lüge. Doch der Kern der Lüge besteht darin, dass man eine Sache denkt und eine ganz andere kommuniziert.
    Wir alle kennen beide Seiten der Medaille und wissen, wie es sich anfühlt, wenn man über die Wahrheit im Bilde ist, seine Mitmenschen aber etwas anderes glauben machen will und umgekehrt – doch je nachdem, ob man nun ein Lügner oder Betrogener ist, fühlt es sich völlig unterschiedlich an. Ein Lügner gibt sich gerne der Vorstellung hin, dass er mit seiner Lüge keinerlei Schaden anrichtet, sofern dies nicht auffliegt und sein Lügengebilde einstürzt wie ein Kartenhaus. Der Angelogene dagegen wird ihm in diesem Punkt wohl widersprechen. In dem Moment, in dem wir unsere Lügen aus der Sicht des Angeschwärzten betrachten, stellen wir fest, dass wir uns bei einem Rollentausch betrogen fühlen.
    Sita, eine gute Freundin von mir, wollte einmal eine Freundin besuchen und ihr eine Kleinigkeit mitbringen. Da sie mit ihrem Sohn im Kleinkindalter unterwegs war, hatte sie jedoch keine Zeit für die Besorgung. Als sie ihr Hotelzimmer räumte, fielen Sita die originellen Badeprodukte auf. Begeistert steckte sie Shampoo, Seife und Bodylotion in eine Tüte, band eine Schleife darum, die man ihr an der Rezeption aushändigte, und machte sich auf den Weg zu ihrer Freundin.
    Das Mitbringsel kam bei ihr sehr gut an.
    »Toll, wo hast du das denn her?«, wollte sie wissen.
    Völlig überrascht von der Frage spürte Sita, wie sich ihr schlechtes Gewissen regte, und sie versuchte, mit einer Lüge wieder Land zu gewinnen, »Oh, die gab es im Hotel, im Souvenirladen.«
    Doch da ertönte es auch schon aus dem Kindermund: »Nein, Mommy, die hast du aus dem Badezimmer mitgenommen!«
    Und nun stellen Sie sich den Gesichtsausdruck der beiden Frauen vor: Zunächst verharren sie peinlich berührt mit versteinerten Mienen, und dann lächeln sie – die eine um Entschuldigung heischend, die andere Vergebung signalisierend. Diese Lüge erscheint banal – und das ist sie ja auch – und doch hat sie das gegenseitige Vertrauen sicherlich beeinträchtigt. So amüsant die Geschichte auch sein mag, sie deckt die wenig sympathische Eigenschaft von Sita auf: Sita lügt, wenn es ihr gelegen kommt.
    Tag für Tag bietet sich uns die oftmals verlockende Gelegenheit, andere zu täuschen, und jedes Mal, wenn wir eine dieser Chancen nutzen, betreten wir ein unethisches Terrain. Unter uns dürften sich kaum mehr als eine Handvoll Mörder oder Diebe befinden, aber gelogen hat wohl schon jeder das eine oder andere Mal. Und nicht wenige können erst beruhigt einschlafen, wenn sie dem Partner den vergangenen Tag und ihre Erfolge in den schillerndsten Farben geschildert haben.
    Was sagt das über
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