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Lucy Sullivan wird heiraten

Lucy Sullivan wird heiraten

Titel: Lucy Sullivan wird heiraten
Autoren: Marian Keyes
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Wahrscheinlich war es nicht Hetty.
    Die Fahrt war ein Alptraum. Stundenlang standen wir im Stau oder fuhren durch gesichtslose Vororte, bis wir eine Autobahn erreichten. Nachdem wir noch einmal ewig lange gefahren waren, gelangten wir schließlich über eine Ausfahrt in eine Siedlung mit Sozialwohnungen – und was für eine!
    Da ich mit meinen beiden Brüdern (Christopher Patrick Sullivan und Peter Joseph Mary Plunkett Sullivan, wie meine glühend katholische Mutter sie genannt hatte) in einer Sozialwohnung aufgewachsen war, kann ich es mir erlauben, sozialen Wohnungsbau und seine Unmenschlichkeit zu kritisieren, ohne daß mir jemand eine scheißliberale Haltung vorwerfen dürfte. Bei uns hatte es nicht annähernd so nach Weltuntergang ausgesehen wie dort, wo Mrs. Nolan lebte. Zwei gewaltige graue Wohnblocks erhoben sich wie Wachttürme über Hunderten von Häuschen, die wie elende graue Schuhkartons aussahen. Ein paar herrenlose Hunde streunten umher – auf der halbherzigen Suche nach jemandem, den sie beißen konnten.
    Es gab keinerlei Grün, weder Bäume noch Büsche, noch Gras.
    Ein Stück weiter lag eine kleine Ladenzeile aus Betonbauten. Außer bei einem Fisch-Imbiß, einem Wettbüro und einem Schnapsladen waren alle Fenster mit Brettern vernagelt. Wahrscheinlich hat mir meine überschäumende Phantasie in der Abenddämmerung einen Streich gespielt, aber ich hätte schwören können, daß ich vor dem Fisch-Imbiß vier Gestalten auf Pferden herumlungern sah. So weit, so gut. Offenbar war Mrs. Nolan noch besser, als ich inzwischen zuzugeben bereit war.
    »Großer Gott«, sagte Megan und verzog voll Abscheu das Gesicht. »Was für eine Müllkippe!«
    »Nicht wahr?« gab Meredia mit stolzem Lächeln zurück.
    Inmitten all des Graus lag ein kleines Fleckchen Erde, das die Stadtplaner vermutlich als üppig begrünte Oase vorgesehen hatten, in der lachende Familien im Sonnenschein spielen würden. Allerdings sah es ganz so aus, als wüchse dort schon lange kein Gras mehr.
    Im Zwielicht konnten wir eine Gruppe von etwa fünfzehn Kindern erkennen, die sich dort zusammengerottet hatten. Sie drängten sich um etwas, das verdächtig nach einem ausgebrannten Auto aussah.
    Trotz der bitteren Kälte des Märzabends trug keins von ihnen einen Mantel (nicht einmal die üblichen Parkas). Kaum hatten sie unser Auto erspäht, unterbrachen sie ihr vermutlich ungesetzliches Treiben und kamen laut brüllend auf uns zugerannt.
    »Mein Gott!« rief Hetty. »Verriegelt bloß die Türen!«
    Alle vier Schließknöpfe rasteten ein, während sich die Kinder um den Wagen drängten und uns mit ihren alten und wissenden Augen durchdringend anstarrten.
    Das Furchterregende ihres Anblicks wurde noch dadurch gesteigert, daß ihre Gesichter ganz schwarz verschmiert waren. Auch wenn es wahrscheinlich nur Öl oder Ruß von dem ausgebrannten Autowrack war, sah es aus wie eine Kriegsbemalung.
    Sie redeten durcheinander.
    »Was wollen sie?« fragte Hetty völlig verängstigt.
    »Ich nehme an, sie fragen, ob wir zu Mrs. Nolan wollen«, sagte ich zweifelnd.
    Ich kurbelte das Fenster einige Millimeter herunter und hörte aus dem Gewirr der Kinderstimmen heraus, daß tatsächlich genau das ihre Frage war.
    »Puh! Die Eingeborenen sind also nicht feindselig!« sagte Hetty mit erleichtertem Lächeln, wischte sich mit theatralischer Geste imaginären Schweiß von der Stirn und atmete tief auf.
    »Red du mit ihnen, Lucy.« Unsicher öffnete ich das Fenster noch ein Stück weiter.
    »Äh... wir wollen zu Mrs. Nolan«, sagte ich. Ein wildes Durcheinander schriller Stimmen ertönte.
    »Da wohnt sie.«
    »Das da hinten ist ihr Haus.«
    »Sie können den Wagen hierlassen.«
    »Da steht ihr Haus.«
    »Da drüben.«
    »Ich zeig es Ihnen.«
    »Nein, ich.«
    »Nein, ich zeig es.«
    »Nein, ich zeig es.«
    »Aber ich hab sie zuerst gesehen.«
    »Du hattest die letzten.«
    »Leck mich, Cherise Tiller.«
    »Leck du mich, Claudine Hall.«
    Während vier oder fünf der kleinen Mädchen haßerfüllt miteinander stritten, saßen wir im Wagen und warteten darauf, daß sie aufhörten.
    »Laß uns aussteigen.« Megans Stimme klang gelangweilt. Wer ihr Angst machen wollte, mußte mehr aufbieten als einen Haufen halbwilder Kinder, die sich auf dem Bürgersteig balgten. Sie öffnete die Tür und stieg über einige von ihnen hinweg. Hetty und ich folgten ihr.
    Kaum hatte Hetty den Wagen verlassen, als ein dürres, drahtiges Mädchen mit dem Gesicht einer
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