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Love at Second Sight - Liebe auf den zweiten Blick

Love at Second Sight - Liebe auf den zweiten Blick

Titel: Love at Second Sight - Liebe auf den zweiten Blick
Autoren: Herbert Friedmann
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nippt an der Teetasse, befeuchtet die Lippen mit der Zungenspitze und sagt: “Sometimes I miss my father very much.”
    “I can imagine”, sage ich, aber das stimmt eigentlich nicht. Wirklich vorstellen kann ich es mir nicht. In meiner Klasse sind viele, die ihren Papa nur ab und zu sehen, weil die Eltern sich irgendwann getrennt haben. Da redet niemand groß drüber. Für die meisten scheint es wie eine Erkältung zu sein, die man hinnehmen muss. Ich hoffe, meine Eltern bleiben vom Trennungsvirus verschont.
    “Do you remember the day we first met?”, fragt Ellen-Jo auf einmal.
    “I won’t ever forget that”, antworte ich. “We were five or six years old.”
    “Four!”, sagt Ellen-Jo mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch zulässt. Ich komme mir in diesem Augenblick schrecklich alt vor und finde es seltsam, dass Ellen-Jo und ich in Erinnerungen schwelgen: Damals, kurz vor Weihnachten, im Luisen-Center in Darmstadt, wo wir uns verlaufen hatten und anschließend im Fundbüro auf unsere Mütter warten mussten.
    Draußen fährt ein Auto vor. Gleich darauf steht meine Mutter in der Tür und verkündet: “Es gibt etwas zu feiern!”
    “Hast du eine Gehaltserhöhung bekommen?”, frage ich.
    “Nicht direkt”, sagt Mama.
    “Indirekt?”, hake ich nach. “Bekommst du einen Dienstwagen oder so etwas in der Art?”
    “Ich habe gekündigt!” Mama freut sich, als wäre es der größte Spaß, seinen Job zu verlieren.
    “Weiß Papa davon?”, möchte ich wissen.
    Mama zuckt nur mit den Achseln. Eine Stunde später sitzen wir in der Pizzeria, auch Ellen-Jo und ihre Mutter, denn ich habe meiner Mama von Anna Pussallas Liebeskummer erzählt. Gemeinsam haben wir es geschafft, sie weg vom Klarinettenkonzert und zurück ins Leben zu locken. Ellen-Jo tätschelt alle paar Minuten meine Hand, als ob das mein Verdienst wäre. Aber ich schmücke mich nicht gerne mit fremden Federn und habe sowieso nur eins im Sinn: Warum hat Mama gekündigt?

Vorfreude und Gefühlschaos
    Der kleine Herr Sommer hat sich kurz vorm Ferienende noch einmal zu einem südländischen Hitzebringer aufgeblasen. Ausgerechnet heute. Ich bin gespannt, ob Ellen-Jo sich wieder Papiertaschentücher unter die Achseln klemmt.
    “We have to leave in an hour”, brüllt Mama aus der Küche. Es ist tatsächlich so gekommen, wie ich es von Anfang an vermutet habe: Mama bringt uns mit dem Auto nach Darmstadt zum Bahnhof, von dort nehmen wir die S-Bahn nach Frankfurt, Tante Monika wird uns nach dem Konzert abholen und wir werden auch bei ihr übernachten.
    “I’m ready”, antworte ich. Na ja, wie man es nimmt, ich könnte schon wieder duschen und die Klamotten wechseln. Aber was soll’s. Wenn wir in Frankfurt angekommen sind, bin ich sowieso klatschnass geschwitzt.
    Do you know how much I love you ... Ich tanze mit geschlossenen Augen durch mein Zimmer, schneckenlangsam, liege auf einmal in den Armen eines Jungen. Er fühlt sich warm und weich an und riecht nach Zimt und Pfefferminz. Ich kann ihn nicht erkennen. Er trägt eine venezianische Karnevalsmaske. Wir schweben einen halben Meter über dem Fußboden. Ich fühle mich total geborgen. Ich möchte ihn nie wieder loslassen, möchte niemals aus diesem Traum fallen, möchte aber doch wissen, mit wem ich schwebe: Rico oder Mike? Oder ein Traumboy, von dem ich noch keinen blassen Schimmer habe?
    “Amelie, there’s somebody at the door. Can you answer it?” Mamas Stimme holt mich in die Gegenwart zurück. Ellen-Jo steht vor der Haustür: ein Traum in Schwarz-Weiß, ein knöchellanger, luftiger weißer Rock, und im Kontrast dazu eine schwarze, ärmellose Bluse in Netzoptik. Geschminkt ist sie wie diese Goth-Typen: schwarze Augenränder, als hätte sie wochenlang nicht geschlafen, und dunkelblaue Lippen. Sie reißt den Rucksack von den Schultern und knallt ihn in den Hausflur. Das Teil ist prall gefüllt.
    “Are you planning on → emigrating ?” Tut mir leid, aber ich kann mir die Frage nicht verkneifen.
    “Can I have a drink?” Ellen-Jo stürzt an mir vorbei, direkt in die Küche. Sie holt sich eine Flasche Apfelsaft aus dem Kühlschrank, setzt sie an die Lippen und trinkt sie in einem Zug aus.
    “Excuse me, but I was → dying of thirst ”, sagt sie und rülpst äußerst unelegant.
    “It looked like it”, antworte ich und drücke ihr ein Küsschen auf die Wange.
    Ich kann Mama überreden, früher loszufahren. Sie begleitet uns bis zur S-Bahn und winkt sogar dem abfahrenden Zug hinterher.
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