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Loriot - Biographie

Loriot - Biographie

Titel: Loriot - Biographie
Autoren: Dieter Lobenbrett
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ausgeprägter Walddichte. Er hatte sich dorthin zurückgezogen, um den Krieg zu verarbeiten oder wenigstens zu verdrängen. Sein Bruder war tot, viele Verwandte und Freunde ebenso, die Heimat zerstört. Für einen so jungen Mann ein Zustand, der schwer zu ertragen war. Jeden Tag um fünf Uhr morgens verließ er mit einer Axt das Haus, um für die Forstbehörde Holz zu fällen. Es tat seinem Körper gut, wenngleich es nicht besonders bezahlt wurde. Doch die überlebenswichtigen Lebensmittelkarten bekam man nur, wenn man eine Tätigkeit ausübte. In seinem Fall standen zur Wahl: im Bergwerk oder als Holzfäller.
    Gesünder war das Arbeiten im Wald vielleicht, aber nicht unbedingt erfüllend für den Geist. Literatur, humanistische Ideen – all das war so weit weg. Ab dem Sommer 1946 besuchte er auch deshalb zusätzlich im rund 25 Kilometer entfernten Northeim das Gymnasium Corvinianum, um dort sein Abitur regulär nachzuholen. Den Ehrgeiz, es nicht beim unvollständigen Notabitur bewenden zu lassen, hatte er, auch weil er irgendwann vielleicht studieren wollte und das Stuttgarter Notabitur dafür nicht ausreichte. Er verfiel in einen »mir bis heute unerklärlichen Bildungsrausch«. [43]
    Die Mischung aus körperlicher und geistiger Anstrengung mitten in der totalen Abgeschiedenheit der niedersächsischen Provinz machte den jungen Kriegsheimkehrer glücklich. Das Lernen ging ihm leicht von der Hand, täglich fuhr er die Strecke zum Gymnasium und zurück mit der Zubringerbahn, seine Fächer waren Deutsch, Mathematik und Englisch. Im Oktober 1946, als die Nürnberger Prozesse zu Ende gingen und Verbrecher wie Göring, Ribbentrop oder Streicher zum Tode verurteilt wurden, sinnierte er in der Abiturprüfung über Schiller. Das Thema im Fach Deutsch lautete: »Charakterisierung Schillers in seinem Verhältnis zu Goethe.« Nun, man muss zugeben, so lautete das Thema nicht, was der Korrektor auch am Rand mit dickem Rotstift vermerkte. Vicco von Bülow aber scherte das nicht, er bog sich die Aufgabe nach seinem Willen zurecht. Das Vorrecht eines fast 23-Jährigen, der gerade Tod, Elend und Zerstörung hinter sich gelassen und überlebt hatte. Denn Schiller liebte er, Goethe weniger, ihn respektierte und ehrte er nur.
    Er bestand dennoch.
    Mit Gedanken wie diesen: »In seinen Dramen geht es Schiller um die ewigen Werte des Zusammenlebens der menschlichen Gesellschaft. In großer Klarheit der Handlung und des Aufbaus entwickelt er die Gedanken zu seiner großen Idee. Sei es die Freiheit, die ideale Verfassung, die soziale Verbesserung oder der Untergang des Unlauteren – immer ist es eine Frucht seines spekulativen Schaffens.« [44]
    Goethe dagegen sei mehr auf Gefühl und Stimmung aus, weniger auf eine Idee. Die Probleme, »seien es Humanismus, Zwiespalt zwischen Wirklichkeit und Gefühl oder der Kampf um Gut und Böse, das Ringen um Erkenntnis, liegen immer im Menschen selbst«. [45] Birgit Lahann, die den Abituraufsatz ausfindig machte, bewertete ihn so: »Schiller ist für von Bülow der Jüngling, der die ästhetische Richtung angibt, der klassische Schwärmer, der die Begriffe lebendig macht, der Freiheit in den Menschen pflanzt (…) und durch ihn eine Idee zum Leben erweckt.« [46] Goethe, der erdverbundene, war nicht so sehr sein Ding, er liebte Schiller, den Träumer und Utopisten, den Protagonisten des Sturm und Drang.
    Auch der benotende Lehrer war vom Aufsatz angetan und hob die übergreifenden und weitergehenden Gedanken des Abiturienten des Vicco von Bülow hervor. Denn dieser hatte nicht nur die Dichter an sich untersucht, sondern auch ihr Wirken im größeren, im menschlichen Maßstab. Er hatte wirklich über beider Lebenseinstellungen nachgedacht.
    Wesentlich nüchterner reflektierte Vicco von Bülow selbst in späteren Gedanken seine Reifeprüfung. »Nach bestandener Prüfung erfreute ich mich einer gewissen Fertigkeit sowohl im Lösen vielstelliger Differential- und Integralaufgaben als auch im Übersetzen griechischer Philosophen. Ferner verfügte ich über einen goldenen Zitatenschatz deutscher und englischer Klassiker.« [47]
    Ähnlich pragmatisch war auch der Tag selbst, an dem seine Schullaufbahn endgültig endete. Die Prüfung legte er am Vormittag ab, bereits am Mittag saß er wieder im Zug nach Markoldendorf und schon am selben Nachmittag fällte er wieder Bäume.
    Eine konkrete Vorstellung, was er beruflich machen sollte, hatte er noch immer nicht. Was beim Sechsjährigen noch nicht weiter schlimm
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