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Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang
Autoren: Petra Oelker
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schlecht lauschen kann, behutsam die Tür.
    Die helle Stimme mit dem leichten, aber eindeutigen französischen Akzent gehörte Loretta, die vollere Madame Hensel. Vorsichtig trat Rosina einen Schritt in den Flur. Die Stimmen kamen aus dem Bureau der Direktion, und nun mischte sich eine Männerstimme ein, wurde lauter, übertönte die der Frauen und sprach schließlich allein.
    «Meine liebe, verehrte Madame Hensel, ich bitte Euch. Natürlich war es ein wenig übereilt von unserem guten Löwen, natürlich hätte er sich zuerst unseres Einverständnisses versichern müssen, bevor er Mademoiselle Grelot, unserer lieben Loretta, die Rolle gab. Nein, Loretta, Ihr seid jetzt still. Ein wenig übereilt, sagte ich. Aber, Madame, auch wenn man die Sache gründlich überdenkt, so ist es zwar eine Hauptrolle, aber doch keine so bedeutende. Ihr spielt an dieser Bühne alle großen Heldinnen, und zwar von Anfang an und ganz gewiß auch in Zukunft, daran wird niemand zu rühren wagen, aber diese ist, wie ich schon sagte, keineswegs so bedeutend, daß Ihr auch sie unbedingt mit Eurem Genie füllen müßt.»
    Rosina, auf ihren nackten Füßen geräuschlos, hatte nun das Fenster erreicht, durch das aus dem sonnenhellen Bureau ein wenig Licht in den dämmrigen Gang fiel. Die Stimme gehörte Abel Seyler, einem der zwölf Hamburger Kaufleute, die das Theater im Frühling gepachtet und neu eröffnet hatten. Anders als die meisten von ihnen, die sich nur als stille Teilhaber verstanden, war er wie ein leibhaftiger Direktor alle Tage da. Er hatte stets Gewinn, Verlust und alles, was die Kasse berührte, im Auge. UndMadame Hensel. Das wußte jeder, auch wenn – bisher – kaum darüber gesprochen wurde.
    In einem staubigen Sessel nahe einem unordentlich mit Papieren vollgestopften Regal saß Johann Friedrich Löwen, ein etwas blasser Mann mit großen grauen Augen. Er hatte einst in Göttingen die Rechte studiert und war schließlich, als ihm das Geld für die Universität ausging, zum Wandertheater gegangen und zu einigem Ruhm gelangt. Nun, in seinem 38.   Jahr, war er nach Hamburg als künstlerischer Primus berufen worden. Bei allem blieb er ein Dichter mit dem Kopf voller Ideale und dem festen Glauben an eine Bühnenkunst, die die Menschen nicht nur zu amüsieren, sondern vor allem moralisch zu bessern vermöge. Er war an diesem Theater, um für die Kunst zu kämpfen. Seyler und Löwen waren deshalb selten einer Meinung.
    Madame Hensel war, während Seyler sprach, unruhig auf und ab gegangen und blieb nun stehen. Sie zupfte mit zierlich gespreizten Fingern an den kleinen Löckchen, die sich über den Schläfen aus der hohen, schon um diese Tageszeit perfekt gepuderten Frisur gelöst hatten, und ihre fest aufeinandergepreßten Lippen wurden ein wenig weicher.
    «Das mag alles sein», auch ihre Stimme klang nun wärmer, «aber in meinem Vertrag steht, daß ich über die Besetzung der großen Rollen mitzuentscheiden habe. Glaubt Ihr, ich hätte sonst meine Ohren vor dem Ruf aus Wien – und es war ein ehrenvoller Ruf! – verschlossen, um hierzubleiben? In dieser Stadt am Ende der zivilisierten Welt, deren Bürger man zur Kunst erst erziehen muß? Glaubt Ihr   …»
    Seyler, der die erste Heldin des Hauses besser, sogar sehr viel besser kannte als alle anderen, von MonsieurHensel vielleicht einmal abgesehen, fiel ihr ins Wort, bevor sie sich wieder in heißen Zorn reden konnte.
    «Aber, meine Verehrte!» Er trat vor das Fenster, und Rosina sah leider nichts mehr als seinen Rücken und die beschwichtigend erhobenen Arme. «Wir alle wissen um Eure große Bedeutung für die Kunst in unserem Land, für die Kunst in der ganzen christlichen Welt. Aber Ihr
könnt
nicht alle großen Rollen spielen, jaja, ich weiß, die eine oder andere spielt Mademoiselle Mercour oder die allseits verehrte Madame Löwen. Aber Ihr, nur zum Exempel, seid Voltaires Semiramis, Merope und Lindane, Destouches’ Celiante und Henriette, seid Lessings Sara und die unvergleichliche, wenn auch nicht sehr lukrative Minna, Corneilles Elisabeth und Cleopatra. Ihr seid die Heldinnen Molières und Goldonis. Welch ungeheurer Reichtum an Rollen von hoher Kunst! Doch gerade
weil
Ihr so unvergleichlich seid, meine liebe Verehrte, wird es Euch und Euren Ruhm nicht im geringsten beeinträchtigen, diese eine Rolle einer jüngeren Kollegin zu überlassen, die noch so viel von Euch lernen kann   …»
    Madames Blick traf ihn wie ein Blitzstrahl, und er fuhr eilig fort: «…   nur
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