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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume
Autoren: Connie Willis
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angezogen. Er hatte sich immer noch nicht rasiert. Vielleicht wollte er sich einen Bart stehenlassen. Falls ja, war es eine schreckliche Idee. Die gräulichen Stoppeln schienen alle Farbe aus seinem Gesicht zu ziehen. Er wirkte gerissen und verrucht, wie ein skrupelloser Pferdehändler. »Ich hätte dich nicht aufgeweckt, aber ich wollte, daß du dir das einmal anschaust.« Er schob mir einen Stoß maschinenbeschriebener Blätter in die Hand.
    »Worum geht es denn?« sagte ich. »Willie Lincoln?«
    Er stocherte im Feuer herum, das beinahe ganz heruntergebrannt war, während ich geschlafen hatte. »Es ist diese Eingangsszene, die mir Sorgen gemacht hat. Ich konnte mich nicht damit abfinden, daß Ben ohne einen Grund anmustert, deshalb habe ich es umgeschrieben.«
    »Wissen McLaws und Herndon davon?« Brouns Kater sprang von meinem Schoß und begann mit dem Schürhaken zu spielen.
    »Ich bring’s morgen bei ihnen vorbei, aber ich wollte, daß du es dir vorher anschaust. Ben brauchte irgendein Motiv, um Soldat zu werden.«
    »Warum? Was ist mit dieser Stelle weiter hinten, wo er sich in Nelly verliebt? Er hat auch dafür kein Motiv. Sie gibt ihm einen Teelöffel Laudanum, und Zack!, schon ist er bereit, für sie alles zu tun.«
    Die Katze umschlang den Schürhaken fest mit einer Pfote, aber Broun bemerkte es nicht. Er starrte ins Feuer. »Es war der Krieg. Die Leute taten so etwas während des Kriegs, sich verlieben, sich aufopfern…«
    »Sich freiwillig melden«, sagte ich. »Die meisten Rekruten im Bürgerkrieg hatten keinerlei Motiv dafür, sich zu melden. Es gab einen Krieg, und sie unterschrieben auf der einen Seite oder auf der anderen.« Ich versuchte, ihm das Kapitel zurückzugeben. »Ich glaube nicht, daß Sie ein neues Kapitel brauchen.«
    Er stellte den Schürhaken zurück in den Ständer. Die Katze legte sich davor; ihr Schwanz schlug hin und her. »Wie auch immer, ich möchte, daß du das liest«, sagte Broun. »Hat dein Stubenkamerad angerufen?«
    »Ja.«
    »Kommt er?«
    »Ich weiß nicht. Ich glaube, ja.«
    »Gut. Gut. Dann kommen wir dieser verdammten Traumgeschichte endlich auf den Grund. Denk dran, mir Bescheid zu sagen, sobald er da ist.« Er bewegte sich zur Tür. »Ich kümmere mich mal um den Partyservice.«
    »Sollten Sie sich nicht besser rasieren?«
    »Rasieren?« sagte er voller Abscheu. »Siehst du nicht, daß ich mir einen Backenbart stehenlasse?« Er nahm eine Pose ein, mit den Händen unter dem Revers. »So wie Lincoln.«
    »Sie sehen nicht wie Lincoln aus«, sagte ich grinsend. »Sie sehen aus wie Grant nach einem Saufgelage.«
    »Das gleiche könnte ich von dir sagen, mein Sohn«, sagte er und ging hinunter, um mit den Leuten vom Partyservice zu sprechen.
    Ich versuchte das neue Kapitel zu lesen und wünschte, ich hätte die Zeit, ein paar meiner eigenen Träume auf den Grund zu kommen. Ich fühlte mich müder, als ich vor dem Nickerchen gewesen war. Ich konnte nicht einmal meine Augen auf Brouns Manuskript scharf einstellen. Die Reporter würden jede Minute hier sein, und dann würde ich für Stunden mit dem Rücken zur Wand stehen und jedermann erklären, warum Brouns Buch noch nicht fertig war, und morgen würde ich nach Arlington fahren und im Schnee herumstochern müssen, auf der Suche nach Willies Grab.
    Wenn ich herausfinden könnte, wo er begraben lag, käme ich vielleicht darum herum, den ganzen Tag lang Schnee von alten Grabsteinen zu wischen. Ich legte das überarbeitete Kapitel beiseite und suchte nach Sandburgs Jahre des Kriegs.
    Broun hat nie viel von Bibliotheken gehalten – er hat Bücher im ganzen Haus verstreut, und immer wenn er eins ausgelesen hat, stellt er es in das nächstbeste Regal. Einmal schlug ich ihm vor, die Bücher zu ordnen, und er sagte: »Ich weiß, wo sie alle stehen.« Vielleicht wußte er es wirklich, aber für mich galt das nicht, und deshalb hatte ich sie auf eigene Faust geordnet – Grant und der Westfeldzug standen im großen Eßzimmer im oberen Stock, Lee im Wintergarten und Lincoln im Studierzimmer. Es half nicht viel. Broun ließ die Bücher immer noch dort liegen, wo er sie ausgelesen hatte, aber es war immerhin besser als nichts. Ich hatte zumindest eine reelle Chance, das zu finden, was ich brauchte. Im allgemeinen. Dieses Mal jedenfalls nicht.
    Sandburgs Jahre des Kriegs war nicht dort, wo ich es hingestellt hatte, und Oates auch nicht. Ich brauchte fast eine Stunde, um sie zu finden, Oates im Bad im ersten Stock, Sandburg unten im
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