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Liebesnächte in der Taiga

Liebesnächte in der Taiga

Titel: Liebesnächte in der Taiga
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Gegenangriffe der zurückflutenden Roten Armee aufgehalten. Hier hatte er die ersten, unübersehbaren Gefangenenlager gesehen, in die man Hunderttausende trieb, verdreckt, blutend, verwirrt von dem Grauen, das über sie gekommen war. Erdbraune Gestalten, die nach drei Tagen auf den Knien um eine Brotkruste bettelten oder in Haufen zusammengeballt auf der nackten Erde oder in mit den Händen ausgescharrten Mulden lagen und verhungerten. Wer hatte mit diesen Scharen von Gefangenen gerechnet? Woher sollte man Brot nehmen? Oder Hirse? Oder Grieß? Der Vormarsch lief schneller als alle Berechnungen, die Kesselschlachten spuckten immer neue Menschenmassen in die Lager, der Sieg überrollte die Organisation. Wo die Glocken läuteten und die Menschen beteten – und die guten alten Muschiks, die Bauern und Weiblein taten es in dem Glauben, daß Gott wieder den Segen über Mütterchen Rußland schüttete –, wo die Popen wieder die Kirchentüren aufrissen und zwischen den kahlen, entweihten Wänden die Hände zum Himmel hoben, waren die Wege gekennzeichnet von den zusammengesunkenen Häuflein verhungerter Rotarmisten. Und es wurden mit jedem Tag mehr, immer mehr.
    Franz Heller nagte an der Unterlippe. Die schwere Düsenmaschine wiegte sich sanft hin und her. Aus der Bordküche trugen die Stewardessen jetzt Tabletts mit kaltem Huhn, Bohnensalat und einer kleinen Flasche Rotwein. Mukusani-Grusinischer, dachte Heller, ein herrlicher Wein. Auf der Zunge kribbelt er vor eingefangener Sonne.
    Nach neunzehn Jahren kehre ich jetzt nach Rußland zurück. Das war ein merkwürdiger, erregender Gedanke. Was lag alles zwischen damals und heute! Was war alles über ihn hinweggestampft!
    Verwundung. Entlassung nach Riga. Am Strand von Libau lernt er Irena kennen. Blond und wie aus dem weißen Meersand geformt. Sie lieben sich, sie träumen in den vom Wind umrauschten Dünen von der Zukunft … der junge Fähnrich Heller und das Mädchen Irena.
    »Ich werde einmal unseren großen Hof übernehmen«, sagt er und küßt ihre Augen.
    »Und ich werde am Fenster stehen und dir zuwinken, wenn du von den Feldern geritten kommst«, flüstert sie und streichelt seine Brust.
    »Wir haben dreitausend Morgen unter dem Pflug, Irena. Und mittendrin ist ein See. Mit Karpfen, so dick, daß meine Hände sie nicht umfassen können.«
    »Es wird schön sein mit uns, Franz.«
    »Wir werden das glücklichste Leben aller Menschen führen, Irena …«
    Dann kam die rote Welle über Riga. Die Illusionen zerbarsten im Geheul der Stalinorgeln, wurden in den Dreck gewalzt von den sowjetischen Panzern, wurden aufgespießt von den Bajonetten siegestaumelnder Divisionen.
    Auch Irena fand man.
    Auf dem Küchenboden im elterlichen Haus lag sie. Erstochen.
    Damals war Franz Heller – unbemerkt in einem Keller von den sowjetischen Truppen überrollt – an der Leiche Irenas niedergekniet. Er hatte nicht geweint. Er hatte in das schöne, jetzt mit Blut besudelte Gesicht gestarrt, war mit seinen Händen ganz zart, wie liebkosend über den kalten, geschändeten Leib gefahren, hatte die blonden Haare wie einen Schleier über die starren, vor Entsetzen und Schmerz versteinerten Augen gezogen und hatte einen Schwur getan.
    Vor neunzehn Jahren.
    Später gelang ihm die Flucht mitten durch die russischen Armeen bis Mazirbe an der Küste. Dort stahl er ein Boot und ruderte in die Ostsee hinaus, ziellos, nur immer geradeaus, nur weg vom Land. Nach vier Tagen fischten ihn schwedische Heringsfänger auf und nahmen ihn mit nach Gotland.
    Vor neunzehn Jahren.
    Und jetzt kehrte er zurück nach Rußland.
    »Ihr Essen, mein Herr!« Die Stimme der Stewardeß ließ Heller aufschrecken. Er nickte, klappte seinen Tisch vor den Sitz und ließ das Tablett hinstellen. »Sie habben käinen Hungär?« fragte die Stewardeß in hartem Deutsch.
    »Doch. Danke.« Heller versuchte ein Lächeln und griff zuerst nach dem roten Grusinischen Wein. »Ich fliege zum erstenmal, wissen Sie. Da hat man so ein komisches Gefühl im Magen. Vielleicht ist es Angst.«
    »Dagägän hilft Essän …« Die Stewardeß goß das Glas halb voll Wein, nickte Heller zu und ging zurück zur Bordküche.
    »Er fliegt zum erstenmal«, sagte sie zu dem Flugkapitän, der im Gang zur Kanzel stand. Und dann lachte sie. »Er sieht ganz grün aus.«
    Pünktlich um 14.17 Uhr setzte die riesige TU-104 B auf der Betonpiste von Wnukowo auf. Sie rollte aus, fuhr einen Bogen und blieb vor dem Flughafengebäude stehen. Die Gangway wurde
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