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Liebesgruesse aus Deutschland

Liebesgruesse aus Deutschland

Titel: Liebesgruesse aus Deutschland
Autoren: Wladimir Kaminer
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und eine Minute später hing ich schon an einem Baum fest.
    »Ich muss auf die Kinder aufpassen«, sagte Frau Walzer. »Jemand muss aber am Boden bleiben!«, rief sie uns zu und kletterte den nächsten Baum hoch.
    Der Polizistenvater überlegte kurz und sagte, er werde am Boden bleiben, für alle Fälle, und um die Sicherheit von unten zu gewährleisten.
    »Ich halte Ihnen den Rücken frei«, zwinkerte er mir zu und zog seinen Klettergürtel wieder aus.
    Für mich führte nun kein Weg zurück. Meine Tochter und ihre ganze Klasse hatten sicher aufgepasst – was würden sie denken? Der Vater von Nicole kann nicht klettern? Nachdenklich und mit Vorsicht stieg ich immer weiter nach oben, und schon zweieinhalb Stunden später fand ich mich in einer mörderischen Höhe auf der Extremroute für auf den Kopf Gefallene zwischen zwei Seilen an einem Karabiner hängend. Bis zum nächsten Baum waren es noch drei Meter, meine Kraft reichte aber nicht einmal mehr für drei Zentimeter. Das verhängnisvolle Ende meiner Kletterkarriere war erreicht. Niemand machte Anstalten, mich aus dieser Lage zu befreien. Direkt unter meinen Füßen, weit unten auf der Erde, stand die Klasse 6a, die längst mit ihren Kletterrouten fertig war. Die unglaublich sportliche Frau Walzer bat gerade den Polizistenvater, der die Bodensicherheit vorzüglich gewährleistet hatte, ein paar Gruppenfotos zu machen, zur Erinnerung an diesen unvergesslichen Ausflug zu Beginn des Frühlings. Die Tatsache,
dass ein großer Schriftsteller, weit über einen Meter sechzig groß, ganz oben an einem Seil festhing und nicht vorwärts kam, schien niemanden zu stören.
    Dabei habe ich mich immer für supersportlich gehalten. Ich hatte mich geirrt. Meine Vorstellung von Sportlichkeit wurde im Kletterwald bei Strausberg-Nord völlig neu definiert. Eine solch sportliche Sportlehrerin wie Frau Walzer hat es in sowjetischen Schulen nie gegeben. Bei uns waren immer Männer für den Sportunterricht zuständig gewesen, ausrangierte Sportler, die keine Lust mehr hatten auf Sport. Der Unterricht hieß auch nicht »Sport«, sondern »physische Kultur«. In meiner Schule war ein ehemaliger Fußballspieler mit Namen Eduard und einer morgendlichen Alkoholfahne für »physische Kultur« zuständig, der allerdings auch auf Klettern stand. Seine Lieblingsübung war es, den Mädchen aus unserer Klasse auf das Seil zu helfen. Er sicherte sie von unten am Hintern ab, und die Mädels kletterten, so schnell sie konnten, von Eduard weg zwei oder drei Meter nach oben. Dort blieben sie in der Regel hängen. Der Fußballspieler Eduard beobachtete sie nachdenklich von unten und verteilte dann die Noten, völlig willkürlich, wie es uns damals schien.
    Die Jungs mussten nicht klettern, stattdessen spielten sie Fußball.
    Die Sportlehrerin meiner Tochter, Frau Walzer, kletterte schnell wie Mogli von Baum zu Baum, kontrollierte gleichzeitig die Klasse, und manchmal nahm sie auch noch ein paar Kinder mit, die auf der Strecke geblieben
waren. Überhaupt habe ich in diesen zweieinhalb Stunden sehr viele Kletterdeutsche beobachtet, die sich mit einer solchen Gelassenheit auf diesen halsbrecherischen Strecken bewegten, als wären sie in einer Baumhöhle auf die Welt gekommen.
    »Komm runter, Papa, wir gehen!«, rief mir meine Tochter zu. Ich sammelte meine letzten Kräfte, zog mich gewissermaßen am eigenen Schopf hoch und schaffte gerade noch die letzten Meter der Extremroute.
    »Und? War es gut ?«, fragte mich der Polizistenvater.
    »Nicht der Rede wert«, antwortete ich und wollte mit der Hand eine abwinkende Geste machen, bekam sie jedoch nicht mehr hoch.
    »Ich komme mit meiner Einheit in einem Monat noch mal hierher und hole alles nach«, sagte der Vater.
    Noch Wochen danach hatte ich Muskelkater und konnte mich kaum bewegen. Dafür wissen nun, hoffe ich, alle in der Klasse meiner Tochter, was für einen coolen Klettervater sie hat.

Unsere neue Religion
    Das Wunderbare ist immer das Ungefähre. Wenn man das Wunderbare genauer betrachtet, wird einem schnell klar, so wunderbar ist es gar nicht. Deswegen beneide ich Chirurgen und Astronomen nicht: Sie haben zu weit geschaut, sie wissen zu viel, woran sollen sie noch glauben? Dabei brauchen alle Menschen etwas, woran sie glauben können, am besten etwas Wunderbares, das sie nicht verstehen. Und sie dürfen niemals an der Sache zweifeln oder sie hinterfragen, denn der Zweifel ist das Ende des Glaubens.
    Es gibt Kinder, die das ihnen geschenkte Spielzeug
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