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Liebesgruesse aus Deutschland

Liebesgruesse aus Deutschland

Titel: Liebesgruesse aus Deutschland
Autoren: Wladimir Kaminer
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»Wenn du mitkommen könntest und ihn mit einem tiefschürfenden Gespräch von der Erziehung seiner Tochter ablenken würdest, dann könnten wir in der S-Bahn in Ruhe Musik hören«, meinte Nicole.
    Ich sagte leichtsinnigerweise zu. Spätestens beim Wort »Kletterwald« hätte es natürlich bei jedem vernünftigen Vater geklingelt, und er hätte mindestens im Internet nachgeschaut, worauf er sich da einlässt. Aber ich konzentrierte mich auf den Vater von Mari, den Polizisten, und dachte über das Endziel des Ausflugs nicht weiter nach. Die Attraktion »Kletterwald« stellte ich mir entspannend vor: kleine Tannen mit aufgespannten Schaukelnetzen dazwischen und glückliche Kinder, die in den Büschen herumkrabbeln. Für alle Fälle zog ich mir Turnschuhe an.
    Die Fahrt nach Strausberg-Nord dauerte eine Stunde und einunddreißig Minuten. Die Klasse 6a wurde von drei Erwachsenen begleitet: von Frau Walzer, der Sportlehrerin und gleichzeitig Klassenlehrerin der Klasse 6a, von dem Polizistenvater und von mir. Ich habe viel Interessantes über Polizeiarbeit erfahren: Wie verschiedene Fußballfans nach dem Grad ihrer Aggressivität eingestuft werden, und woher all die übergewichtigen Polizisten kommen, obwohl sie doch so einen sportlichen Beruf haben.

    Der Vater von Mari war allerdings nicht irgendein gewöhnlicher Streifenpolizist, sondern ein Ordnungshüter auf Weltniveau. Er hatte bereits bei wichtigen Gipfeltreffen und Fußballspielen die Sicherheit gewährleistet und in Afghanistan Polizisten ausgebildet, damit sie besser gegen ihre Feinde, die Taliban, vorgehen konnten. Wobei er sich jedoch nicht sicher gewesen war, ob er nicht gleichzeitig auch die Taliban selbst ausbildete. Männer in archaischen Gesellschaften wechseln gerne ihre sozialen Rollen. Tagsüber sind sie Polizisten und bekämpfen die Taliban, nachts sind sie möglicherweise selber Taliban und bekämpfen die Polizisten. Auf jeden Fall wächst die Widerstandskraft der Taliban in gleichem Maße wie die Schlagkraft der Polizei. Je besser die einen ausgebildet werden, umso sicherer agieren die anderen. Ein Paradox, meinte der Polizistenvater. Außer in Afghanistan hatte er auch im Kosovo ausgebildet, und wahrscheinlich hat er auch zu Hause seine Frau und seine Tochter ausgebildet, aber danach habe ich ihn nicht gefragt.
    Ich fühlte mich völlig in Sicherheit, in der S-Bahn neben dem Mann zu sitzen. Die Mädchen hörten entspannt die ganze Zeit Musik. An der Endstation stiegen wir aus und gingen den Rest des Weges zu Fuß. Ich war noch nie in Strausberg-Nord gewesen, und ich glaube, man fährt auch ohne Not nicht dorthin, es sei denn, um zu klettern. Die Gegend sah ländlich aus, kleine weiß gestrichene Häuschen, viel Grün. Die Bewohner von Strausberg-Nord hatten noch die inzwischen in den Städten selten gewordene Angewohnheit, ihre Unterwäsche auf dem Hof zum
Trocknen aufzuhängen. Überall wehten Büstenhalter in unglaublichen Größen. Auch ein paar kleine Höschen waren zu sehen.
    Im Kletterwald angekommen dachte ich zuerst, es müsse sich um einen Scherz handeln. Es war schließlich gerade der erste April, der Tag der Scherze. In zwanzig Metern Höhe hingen dort Metallkonstruktionen, so weit von einander entfernt, dass man fliegen können musste, um weiterzukommen. Die wackelnden Treppen, die einfach so in der Luft hingen, die schrecklichen Seile – die ganze Anlage sah aus wie eine kompliziert gebaute Folterstrecke mit abschließendem Erhängen. Nicht einmal der dümmste Makake würde sich auf ein solches Abenteuer einlassen, dachte ich, sagte aber nichts. Ich wartete, bis die anderen es selbst einsahen. Die hatten aber anscheinend keine Berührungsängste mit dem Kletterwald. Die Mitarbeiter gaben uns schließlich eine kleine Einweisung. Demnach gab es acht verschiedene Routen, eine schlimmer als die andere. Und für alle Kletterfans ab einem Meter sechzig wäre da noch die sogenannte Extremroute im Angebot, ein ganz besonderer Spaß für auf den Kopf Gefallene.
    »Die Erwachsenen wollen auch mitmachen?«, fragte die Kletterwaldmitarbeiterin.
    »Natürlich«, sagte Frau Walzer, die Sportlehrerin.
    »Klar doch«, sagte der Afghanen-Ausbilder.
    Und ich, ein Schreibtischarbeiter, sagte ebenfalls Ja, um nicht als Versager dazustehen.
    Sekundenschnell wurden wir drei von Mitarbeitern des Kletterwaldes in spezielle Gürtel mit Rollen, Sicherheitsseil,
Karabinern und andere Bergsteigerausrüstung gehüllt, dazu bekamen wir Schutzhelme und Handschuhe,
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