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Liebesgruesse aus Deutschland

Liebesgruesse aus Deutschland

Titel: Liebesgruesse aus Deutschland
Autoren: Wladimir Kaminer
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erzählen.
    »Oft sind es sehr alte Menschen, die Schließfächer in der Sparkassenfiliale besitzen, sie haben keine Kraft mehr, ihre Fächer auf- bzw. zuzuschließen. Ein sehr alter Mann
kam trotzdem jeden Tag sein Schließfach besuchen«, erzählte mein Berater. »Einmal bat er mich, ihm zu helfen, seine Wertschatulle herauszunehmen, er konnte sie selbst nicht mehr herausheben, so schwer war sie. Ich ging mit ihm in den Tresorraum, holte seine Schatulle unter großer Anstrengung heraus – sie war tatsächlich verdammt schwer –, stellte sie auf den Tisch und wollte den Tresorraum wieder verlassen, wie es sich in einer Bank gehört. Doch der Kunde hielt mich am Ärmel zurück.
    ›Bitte bleiben Sie‹, flüsterte er. ›Machen Sie mir die Freude – ich möchte, dass Sie in meine Schatulle reinschauen. ‹
    Er öffnete die Kiste. Sie war mit südafrikanischen Goldmünzen gefüllt, Sie wissen schon, diese Krügerrandmünzen. Ein toller Anblick, so viel Gold. Ich gratulierte ihm zu seinem Gold und wollte erneut gehen. Der Alte ließ mich aber immer noch nicht los.
    ›Nehmen Sie eine‹, forderte er mich auf, ›bitte, bitte!‹
    Was sollte ich machen? Ich nahm eine seiner Münzen in die Hand: Es war eine Schokoladenmünze. Der Kunde hatte sein Schließfach mit Schokolade von Aldi gefüllt, unter die Schokolade eine Stahlplatte gelegt, um das Ganze schwerer zu machen, und freute sich nun fürchterlich über meinen Gesichtsausdruck. Ich war fassungslos und sagte nichts. Seine beiden Söhne kämen ihn nicht einmal besuchen, erzählte er mir. Der eine Sohn unterrichte irgendetwas in England, der andere sei vor langer Zeit mit seiner Freundin nach Stuttgart gezogen. Sie schrieben ihm nicht einmal Postkarten zu Weihnachten, beschwerte er
sich. Er wisse überhaupt nicht, ob er Enkelkinder habe. Dafür stelle er sich jede Nacht vor dem Einschlafen vor, wie seine beiden Söhne nach seinem Tod hierherkämen, um ihre Erbschaft anzutreten, die dicke Schatulle aus dem Tresor holten, sie nach oben schleppten und die Aldi-Schokolade darin entdeckten. Allein dieser Gedanke gäbe ihm den Mut weiterzuleben und lasse ihn glücklich einschlafen. Jede Nacht träume er davon, und bestimmt werden seine Söhne noch dämlicher aus der Wäsche gucken, als ich es gerade getan habe.
    Ungefähr ein Jahr danach starb der Kunde. Seine Söhne kamen nicht. Der Erbschaftsverwalter untersuchte das Schließfach, entsorgte die Stahlplatte und ließ die Schokolade in der Filiale in einer Ecke liegen. Sie wurde schnell aufgegessen. Niemand hat sich groß über die Schokolade gewundert, am wenigsten der Erbschaftsverwalter, als hätte er genau das erwartet.
    Ich kann nicht ausschließen, dass die meisten Schließfächer in Deutschland mit Aldi-Schokolade gefüllt sind«, beendete der Sparkassenberater seine Erzählung. »Allerdings kann ich Ihnen aus persönlicher Erfahrung von dieser Anlagemöglichkeit nur abraten«, fügte er nach einer Pause hinzu.

Der deutsche Kletterwald
    Jedes Alter hat seine Tücken, aber nichts ist anstrengender als die Pubertät. Es gäbe drei Mädchen-Cliquen in ihrer Klasse 6a, berichtete mir meine Tochter Nicole. Die obercoolen Mädchen aus der Mainstream-Clique tragen schon alle einen BH, benutzen Nagellack und schminken sich – nicht immer dezent. Die BH-Trägerinnen stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und werden von den Lehrern und anderen Schülern mit Respekt behandelt. Zu der zweiten Clique gehören Mädchen, die geistig schon längst reif für den BH sind, aber aus technischen Gründen noch keinen tragen. Ganz abseits vom Mainstream sind die sogenannten Babymädchen, die statt Rihanna-Clips den Kinderkanal im Fernsehen gucken.
    Meine Tochter ist klein und kann daher nicht bei den Obercoolen angeben. Sie beneidet die Großen sehr und leidet unter dieser krassen Ungerechtigkeit der Natur, die irgendwelche blöden Kühe zu Obercoolen wachsen lässt und sie nicht. Ich als Vater leide mit meiner Tochter selbstverständlich mit, bloß: Wie kann ich ihr helfen? Und muss man das Erwachsenwerden beschleunigen? Bei solchen Fragen sind selbst die besten Väter hilflos.

    »Würdest du bitte an unserem Wandertag teilnehmen?«, fragte mich Nicole eines Tages. Sie fuhr mit der Klasse in den sogenannten Kletterwald nach Strausberg-Nord, und es wäre cool, wenn ich mitkommen würde. Der Vater ihrer Freundin Mari, ein Polizist, habe auch vor mitzukommen, erklärte sie mir. Er nähme die Erziehung seiner Tochter sehr ernst.
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