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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Autoren: Imre Kertész
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entsinne mich noch, wie ich mit einem jungen Mann namens Péter (wir waren beide vielleicht 23 Jahre alt) über die Zivatar-Straße spazierte und ihm, der ebenfalls Schriftsteller werden wollte (es wurde ein schlechter Schriftsteller aus ihm, und er ist jung gestorben), von meiner Idee erzählte, die auf einem alles entscheidenden Grunderlebnis basierte: ein Erlebnis, genauer, eine Erfahrung, die ich während des Militärdienstes gemacht hatte, so, wie ich es Jahrzehnte später in
Fiasko
beschrieben habe. Die Geschichte des Sodomers Lot aber, wie ich sie mir damals ausgedacht habe, wartet noch immer darauf, geschrieben zu werden. (Zu erwähnen ist, daß mir dieses Motiv in der Zeit meiner Nietzsche-Übertragung von neuem begegnet ist, bei der Beschreibung des apollinischen bzw. dionysischen Griechen; und da mein damaliges Erlebnis einen sehr déjà-vu-artigen Charakter hatte, frage ich mich, ob ich
Die Geburt der Tragödie
in meinen jungen Jahren nicht schon einmal gelesen habe, natürlich in der archaischen, ungeheuer prägnanten Übersetzung von Lajos Fülep; nun, ich kann mich nicht entsinnen, ob es so gewesen ist, andererseits hat der Text, wie auch Stimmung und Welterleben, die darin eingefangen sind, in mir ein ungewöhnlich heftiges und nostalgisches Gefühl von «Vertrautheit» ausgelöst, als ich die
Tragödie
übersetzte.)
    1 . April 2001  Weiter Lektüre des Kundera-Essays; er ist doch sehr inspirierend, es fragt sich bloß, warum die Bücher des Autors so mittelmäßig sind, wenn er doch so klug ist und alles über den Roman weiß. Was mich betrifft: Sobald ich über Romantheorie sprechen soll, aber auch, wenn ich etwas darüber lese, wird mir der Mund so trocken wie ein Schwamm. Das alles ist so überflüssig, alles hängt schließlich ganz entschieden von der Begabung zur plastischen Darstellung ab, davon, ob jemand seine Welt zum Leben erwecken kann oder nicht. Und doch habe auch ich mich in der Zeit des
Romans eines Schicksallosen
unheimlich viel mit theoretischen Dingen beschäftigt, damals tat mir das irgendwie gut und war für den Roman auch nötig. Jetzt hat sich das alles verändert: Auch für
Liquidation
ist enorm viel Theorie nötig, sind immense Probleme aufzurollen und zu lösen, aber ich arbeite fast verschämt daran, im stillen, damit es bloß niemand mitkriegt; denn um die Probleme des Romans heute zu erkennen, genügt es wohl kaum zu wissen, daß «der Roman die Erforschung des Seins mit den Mitteln des Romans ist», dazu gehört auch das Wissen, wie obsolet das Erforschen von Seinsfragen heute ist; wie obsolet damit auch der Roman und noch obsoleter der Romancier heute ist.
    Das wichtigste Merkmal des «schicksallosen Zustands» ist schließlich das völlige Fehlen einer Beziehung zwischen Existenz und wirklichem Leben. Das existenzlose Dasein, oder eher: das Dasein ohne Existenz – das ist das große Novum der Epoche.
    Ich gehöre zu einer Minderheit, die schon immer beschimpft und verfolgt, und schließlich, 1944 , zum Tode verurteilt worden ist, und dieses Urteil ist bis heute nicht aufgehoben.
Wie interessant, daß ich diesen Satz so viel leichter auf Deutsch als auf Ungarisch niederschreibe. Ich gehöre also zu jener Minderheit, die man zufällig die jüdische oder die Judenheit nennt, was aber nichts mit
meinem
Judentum zu tun hat, meiner eigenen, persönlichen Bindung an das Judentum – ob ich also darin eingebunden oder herausgelöst aus ihm bin –, und letztlich auch nichts mit dem eigentlichen Judentum selbst, falls es so etwas überhaupt gibt. – Andererseits, wenn ich die Entwicklungen der letzten zehn Jahre in Betracht ziehe, seit Ungarn ein freier und sogenannter demokratischer Staat ist, und daß im Lauf dieser zehn Jahre das «Judentum» nicht nur noch mehr ausgegrenzt, sondern daß auch noch offenkundiger geworden ist, daß die «Nation» keinen Anspruch auf meine Erfahrungen, meine schriftstellerischen Erzeugnisse erhebt: angesichts dieser Entwicklung kann ich keinerlei nationale Solidarität mit dem sogenannten «Ungarntum» entwickeln, das heißt, ich habe keine ungarische Identität, ich fühle und denke nicht im Einklang mit der desperaten ungarischen Ideologie. Und das ist auch deshalb traurig, weil es letztlich das antisemitische Vorurteil bestätigt, daß die sogenannten Juden sich für die sogenannten Ungarn nicht interessieren. Alles ist Lüge und Betrug auf diesem semantischen Feld, kein Wort, kein einziger Begriff hat einen realen, klar artikulierbaren
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