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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Autoren: Imre Kertész
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überhaupt nicht mehr schreiben. Man stelle sich vor, Shelley würde seine Gedichte auf dem Computer verfassen: Ist das vorstellbar? Ich denke hier einfach an die Technik, ob einem, wenn man am Computer sitzt und auf seine Tasten hämmert, überhaupt ein guter Vergleich einfallen kann. Doch warum schließlich auch nicht? Man muß den Computer liebhaben, wie Rilke sagen würde. Und wenn ein plötzlicher Stromausfall alles zunichte macht, was ich geschrieben habe? Und wenn ein Schlaganfall es zunichte macht? Das Beispiel ist nicht gut, denn gegen einen Schlaganfall ist man am Computer ja auch nicht gefeit, und der geschriebene Text bliebe erhalten (bloß nicht mehr
mir
). – Hätte sich Gyula Krúdy über den Computer gefreut? Darüber ließe sich nachdenken. Es ist nicht auszuschließen …
    24 . März 2001  Ich habe keine großen Träume, keine großen Gedanken. Aber mein Stil ist gut, und was ich begonnen habe – der Roman – strebt nach Vollendung.
    26 . März 2001  Ich erinnere mich, welche Vorwürfe man mir vor vier Jahren, als
Ich – ein anderer
erschien, wegen des «düsteren» Bildes machte, das ich von Ungarn gezeichnet hätte; und heute tritt das Gesindel, das den braven Ungarn ein Herdendasein, den Zigeunern die Ausrottung und den Juden die Ausplünderung verspricht, als drittgrößte politische Partei auf, und ihre Führer-Persönlichkeiten sind eine sichere Garantie dafür, daß diese Versprechen eingehalten werden.
    27 . März 2001  In der Nacht Kunderas geschwätziger Essay über den Roman. All die bekannten Gemeinplätze, aber mit französischer Eloquenz, was das Ganze ein wenig mildert. Unter anderem resümiert Kundera, daß der Roman seit Kafka den von außen beherrschten Menschen darstelle, der keine Chance mehr gegenüber der alles in Besitz nehmenden Macht hat – vertraute Gedanken aus der Zeit des
Romans eines Schicksallosen
; doch die Frage bleibt: Wenn die Macht totalitär und die Anpassung an sie total ist, für wen stellen wir dann den totalitär beherrschten Menschen dar – genauer, warum stellen wir den totalitär beherrschten Menschen negativ dar, für was für eine rätselhafte Entität, die demnach außerhalb der Totalität bliebe und urteilte, ja – da es um den Roman geht –, sich an dem Werk vergnügen und daraus lernen könnte, mehr noch, die Arbeit des Kritikers verrichten und ästhetische Schußfolgerungen für künftige Werke daraus ziehen sollte? Das Absurde daran ist, daß es, seit Gott tot ist, keinen objektiven Blick gibt, daß wir uns in einem Zustand des
panta rhei
befinden, daß es keinen Halt mehr gibt und wir dennoch so schreiben, als gebe es ihn, das heißt, als existiere trotz allem ein
sub specie aeternitatis
, ein göttlicher Standpunkt oder das ewig Menschliche. Wie ist dieses Paradoxon aufzulösen?
    28 . März 2001  Ich wäre wirklich eine provinzielle und jämmerlich Figur, sollten die Anstrengungen, den Computer zu beherrschen, mich vom Schreiben abhalten.
    Im Hinblick darauf, daß es keine Geschlechter unterscheidet, ist das Ungarische wirklich eine unmögliche Sprache. Es wäre interessant, die Gründe zu analysieren – es ist, als sollte dabei irgendein undurchdringliches Geheimnis gewahrt werden.
«Ich fragte ihn, ob er sie/ihn/es liebe; nach einigem Nachdenken antwortete er, daß er sie/ihn/es gern lieben würde, aber keine Zeit dazu habe.»
Sind zum Beispiel Frauen die Objekte dieses Dialogs und Männer führen ihn, klingt er ganz anders, als wenn von Männern die Rede ist und das Gespräch unter Männern stattfindet.
    29 . März 2001  Damit du dich nicht täuschst: der Kampf mit dem Computer ist kein luxuriöses Spiel, sondern eine existentielle Frage (wegen meiner rechten Parkinson-Hand); und die bisherige Erfahrung zeigt, daß es kein größeres Vergnügen gibt, als mit der Hand zu schreiben.
    30 . März 2001  In der Nacht endlich ein Traum – ich erinnere ihn nicht, aber das Auftauchen eines Traums nach langer, langer Zeit, in der ich überhaupt nicht träumte, verspricht vielleicht die Rückkehr zu echter Kreativität. – Zugleich hat sich in dieser Nacht mit merkwürdiger Eindringlichkeit der
Einsame von Sodom
wieder gemeldet, die erste große Idee oder das erste Thema meiner jungen Jahre – das dionysische Erlebnis, die Selbstaufgabe des freien Individuums im Rausch des Massenrituals; dieses Motiv hat meine ganze spätere Arbeit bestimmt (wenn ich in der Eile so sagen darf), also die Handlung all meiner späteren Romane. Ich
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