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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Autoren: Imre Kertész
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schlimm?
    Der Selbstmord rührt vielleicht aus der Erkenntnis einer großen Lüge; die Erkenntnis einer großen Wahrheit spornt, so glaube ich, eher zur Fortsetzung des Lebens an. (Was ist der Unterschied zwischen einer großen Lüge und einer großen Wahrheit? Vielleicht ist es nur ein moralischer Unterschied und berührt eben die Frage von am Leben bleiben oder Selbstmord begehen.)
    14 . März 2001  Dieser Roman ist voller Rätsel. Daß ich die Figur (den Selbstmörder) sozusagen «kalt» erfinde, davon kann keine Rede sein. Ich muß meinen eigenen Fähigkeiten vertrauen, meiner Inspiration, meinem «Unterbewußtsein», meiner plastischen Begabung.
    16 . März 2001  Der chaotische, diffuse Charakter dieser letzten Tage. Noch vor drei Tagen in großer Romanstimmung, noch gesteigert durch die Lektüre des jetzt fertiggestellten und des schon lange vorhandenen (und auf Einarbeitung wartenden) Materials. Dann warf vorgestern der Kauf eines Laptops mit einem Mal alles wieder um. Gestern von morgens bis abends vergeblich an dem Apparat herumgearbeitet – ich komme nicht mit ihm zurecht. Aber diese zwei Tage haben mir wieder gezeigt, was ich bin, wenn ich nicht schreibe: nichts und niemand.
    18 . März 2001  Angeblich kann es nun mit dem Tippen auf diesem Gerät losgehen. Ich möchte die Datei unter dem Stichwort «Geheimdatei» eröffnen.
    Gestern im Konzert (Rostropowitsch). Ein paar Worte mit dem Minister, einem im Grunde genommen gar nicht unsympathischen jungen Mann. Mir wurde ein wesentliches Moment dieses Prozesses klar, der sich untergründig vollzieht. Worum geht es? Kurz gesagt – eine merkwürdige Machtübernahme hat eingesetzt. Wenn ich hier das Wort «Jude» gebrauche, meine ich das eher symbolisch. Eine Generation von Intellektuellen übernimmt die Macht von den «Juden». Ein merkwürdiger Vorgang, den es mit leichter Trauer und großer Hellsicht zu beobachten und dem es sich schleunigst zu entziehen gilt. Auch literarisch. Ja, vor allem literarisch.
    Morgendämmerung. Das Geisterhafte der Welt. Als würden keine Menschen, nur Gespenster existieren. Auch ich bin geisterhaft, ich weiß nicht, wessen Geist ich bin, beziehungsweise welche Art von Gesetzen bestimmt, was mein Geisterdasein auf dieser Erde antreibt, was es lenkt.
    19 . März 2001  Aber was symbolisiert «der Jude»? Offenkundig das «Weite», Weltläufige, den Gegenpol, die Kritik. In Wahrheit ist der «Jude» aber auch Symbol seiner selbst. Zumindest der europäische Jude. Der europäische Jude ist ein Überbleibsel, kein Anachronismus wie das orthodoxe Judentum, bei dem es immer noch um eine Art Befindlichkeit geht. Nein, der europäische Jude ist tatsächlich ein von den anderen definierter Menschentyp, der zu dem ihm aufgezwungenen Judenstatus keinerlei innere Beziehung mehr entwickeln kann. Als Religion mag es vielleicht noch funktionieren, aber dann stellt sich die berechtigte Frage, warum nicht orthodox? Und was bedeutet das «Auf Wiedersehen in Jerusalem» – da doch Jerusalem tatsächlich existiert und die Juden dort leben?
    20 . März 2001   14 Uhr 26 : Nachdem sie lange, lange verschwunden war – so als sei ein musikalisches Thema ausgeblieben –, ist es mir genau in diesem Augenblick gelungen, die sogenannte «Datei» wiederzufinden, und daß mich das mit einem solchen Glücksgefühl erfüllt, macht deutlich, wie tief man sinken kann, wenn man sich der Technik ausliefert. Und damit gehe ich nun zum ersten Mal, seit ich am Computer arbeite, nach einer Seite Text auf die nächste Seite über und habe nicht die leiseste Ahnung, was passieren wird.
    Am selben Tag: Diese Zeilen sind ein Dokument meines Ringens mit dem Computer: Als solches erfüllen sie keinen anderen Zweck als den, daß irgend etwas auf der Seite steht. Soviel ist sicher: Der Computer ist eine Denkweise, und nicht eben die erhabenste. Sogar, wenn man so will, eine Sprache, und nicht eben die poetischste.
    21 . März 2001  Wieder Morgendämmerung, dunkle, regnerische Frühe. Während ich mit Leidenschaft auf dem Laptop lerne, begleitet mich ein Gefühl von Verrat – als würde ich meine geistige Welt verlassen. Wie? Soll es bald von der Elektrizität, von der Stromversorgung und dem Zustand dieses Apparats abhängen, ob ich schreiben, überhaupt denken kann? Er führt mich weit aus der Welt der stillen Meditation heraus, und es wäre gut, mir in dieser Hinsicht Beruhigung zu verschaffen – denn andererseits könnte ich ja mit meiner Parkinson-Hand bald
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