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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Autoren: Imre Kertész
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auch nicht. Es gibt ausschließlich negative Erfahrungen, die zwangsläufige Passivität wirkt kastrierend auf das ganze Land, und damit stirbt langsam die Kreativität, die eine Nation am Leben und nicht bloß in einem vegetierenden Überlebenszustand hält. Immer deutlicher zeigen sich die Konsequenzen, die sich daraus für mein Schaffen wie auch für meine bloße Existenz ergeben. Ich arbeite in einer verständnislosen Umgebung, in einer Sprache, die diejenigen, die mich sonst verstünden, nicht verstehen.
    30 . Januar 2001  Am Wochenende Salzburg. András Schiff. Nächtlicher Spaziergang durch die engen Gassen Salzburgs. Sein wundervolles Mozart-Konzert. Abends die Landesmanns. Noch ein Konzert im Festspielhaus (Periaha). Nachts Übelkeit (verdorbener Magen, wie in meiner Kindheit, vom Tscholent-Abendessen zwei Tage zuvor). Wie schon gesagt, so muß man leben – wenn ein Freund ein Konzert in Salzburg gibt, setzt man sich in den Zug und fährt hin; Schiff gestand, daß es für ihn, obgleich er – zumindest als Erwachsener – nur einige Jahre von der «sanften» Diktatur miterlebt hat, auch heute noch wie ein Wunder ist, sich frei in der Welt bewegen zu können. Das gleiche sagen auch Ligetis: Sie leben seit 1956 in freien, zivilisierten westlichen Verhältnissen, können das aber auch heute noch nicht als ganz natürlich betrachten. – Sowohl im Zug als auch in Salzburg langweilte ich Magda mit meinen üblichen Klagen: über die Schande, in Ungarn zu leben und den Antisemitismus der Öffentlichkeit zu ertragen. Und das ist noch das kleinere Übel: Mein wirkliches geistiges Elend in diesem Land rührt daher, daß es hier für mich keine Aufgabe, keine Arbeit im geistigen Sinne gibt. Ich sagte, daß ich gern jetzt noch, im Alter von 72 Jahren, die deutsche Staatsbürgerschaft annähme. Ich habe das Gefühl, in Deutschland eine Aufgabe zu haben; wie gering die Wirkung auch ist, die ein Schriftsteller haben kann, dort habe ich sie, was ich schreibe, fällt auf fruchtbaren Boden, man braucht mein Werk, das eine geistige Brücke bildet und doch so vieles umfaßt; ich gehöre zur westlichen Zivilisation, und das wird mich immer von der Region, dem Volk, der «Kultur» trennen, in deren Sprache ich schreibe. – Weg von hier: das ist eine strategische Frage, solange ich für meine kurz bemessene Zeit überhaupt noch strategische Pläne schmieden kann.
    5 . Februar 2001  Kampf mit dem Roman. Früh aufgestanden, gebadet, dann ans Manuskript. Das Wahrheitsverlangen der – von mir – dargestellten Welt. In Wirklichkeit ist der Grund für das Gefühl des Werteverlusts nicht geklärt, es ist nicht geklärt, was die Menschen, vor allem die sogenannten Intellektuellen, verloren haben. Wahrscheinlich die Hoffnung, die Hoffnung auf einen Wandel. Es hat zwar ein Wandel stattgefunden, aber dabei ist das Gefühl der Erneuerung, die Katharsis, ausgeblieben. Im Seelenzustand der westlichen Welt ist dieses Gefühl, wenn auch irgendwo in der Tiefe, so doch gegenwärtig, weil die Revolutionen ausgefochten, Gesellschaftsverträge im großen und ganzen geschlossen worden sind.
    8 . Februar 2001  Die «Volks»-Motive, so, wie Schostakowitsch sie verwendet, zum Beispiel im ersten und – vor allem – im letzten Satz des 1 . Klavierkonzerts, als Dummheit vorgeführt; und allein so ist er glaubwürdig. – Aber wie lange hat es gedauert, bis man endlich darauf kam, daß er, Schostakowitsch, nicht mit diesen Idiotismen identisch ist, die lediglich den künstlichen und alles um sich niedertrampelnden Optimismus einer scheußlichen, mörderischen Maschinerie darstellen; nebenbei sind in diesem dummen Gepfeife sogar die Fehler, Aussetzer und Stockungen der Maschinerie enthalten.
    17 . Februar 2001  Schreiben, mit besonderem Genuß, mit dem Gefühl: «mein letzter Roman». – Ansonsten: viel zuviel gesellschaftliches Leben, überflüssige Abendessen und Zusammenkünfte; die Nähe von Freunden in dieser unfreundlichen, dieser faschistischen Umgebung dennoch erwärmend. – Eine interessante Frage: Wenn ich meine Spielkarten herausnehme, wieso ist Pik-As dann immer (fast immer) die unterste Karte? Es scheint, als hätte das Pik-As ein eigenes Gewicht, irgendeine sonderbare Gravitationskraft. Mysteriös.
    8 . März 2001  Letztes Wochenende in Madrid. Die Eleganz dieser Stadt. Die südlichen Gesichter; noch menschlich, es ist ihnen noch nicht jene roboterhafte Starrheit eingegraben – oder auch der Alkoholismus –, wie
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