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Lesereise Tschechien

Lesereise Tschechien

Titel: Lesereise Tschechien
Autoren: Klaus Brill
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Kesseln und hölzernen Fässern. Bei den Fässern stand dann zuletzt ein Alter auf den nassen Bodenplatten und zapfte aus einem der schweren Behältnisse für jeden Teilnehmer des Rundgangs einen kleinen Becher einer goldgelben, schäumenden Flüssigkeit. »Na zdraví«, sagt der junge Mann jetzt und hebt den Becher. Zum Wohl. Und wirklich, das Getränk ist unvergleichlich. Echtes Pilsner Urquell, ungefiltert, naturtrüb, nicht pasteurisiert.
    Natürlich schmeckt es nirgends so gut wie an diesem Ort, rund fünfzehn Meter unter der Erde in einem der durchfeuchteten, neun Kilometer langen Gänge, die sich in Pilsen direkt unter dem Gelände der weltberühmten Brauerei befinden. Ein paar flüchtige Augenblicke lang darf man sich dem Gefühl hingeben, einem Mythos an seinem Ursprungsort begegnet zu sein. Aber Mythen lösen sich, wenn man ihnen nahe kommt, meist rasch in Banalitäten auf. Ja, ja, die alten Gänge gibt es noch, aber sie werden hauptsächlich für die Touristen gebraucht. Das Bier wird, von einer Sondermenge abgesehen, zum Gären nicht mehr hierher gebracht, es fermentiert in einer Batterie blitzblanker Stahltanks draußen im Hof. Und die Becher, die den Besuchern zum Trunke gereicht werden, sind aus Plastik. Beim Abschied fallen sie mit einem seltsamen Knatschgeräusch übereinander in den Abfalleimer, der die Form eines halben Bierfasses hat.
    Dennoch kann, wer Pilsen kennenlernen will, die Brauereibesichtigung kaum auslassen. Das Bier hat diese Stadt nun einmal bekannt gemacht, und was man hier über seine Herstellung erfährt, ist auch höchst interessant. Bekanntlich war es ja ein Niederbayer, der Braumeister Josef Groll aus Vilshofen, ein Neunundzwanzigjähriger von rauer Art, der am 5. Oktober 1842 zum ersten Mal in Pilsen auf seine unnachahmliche Art ein untergäriges Lagerbier erzeugte, in einer mächtigen Braupfanne, die noch vorhanden ist. Er nahm dafür ein nur leicht gedarrtes und deshalb helles Malz her, dazu echten Saazer Hopfen, das weiche Pilsner Wasser und eine besondere Hefe – bis heute bürgt diese Mischung für Qualität.
    Zuvor hatten auch in Pilsen die Bürger, die im Mittelalter in großer Zahl vom böhmischen König das Braurecht erhalten hatten, ein dunkles, obergäriges Gesöff hergestellt. Es war zum Teil so miserabel, dass 1838 auf dem großen Platz vor dem Rathaus aus Protest sechsunddreißig Hektoliter öffentlich weggeschüttet wurden – ein Wendepunkt der Stadtgeschichte, der zur Gründung des Bürgerlichen Bräuhauses und zur Berufung des Meisters Groll aus Vilshofen führte.
    Pilsen war damals eine beschauliche Provinzstadt der Habsburger Donau-Monarchie, die die wilden Zeiten der Hussiten-Kriege und des Dreißigjährigen Krieges längst hinter sich hatte. Vor ihr lag der Aufstieg zur Industriemetropole. Er verdankte sich weniger dem Bier als dem einheimischen Ingenieur Emil Ritter von Škoda, der 1869 eine zehn Jahre zuvor gegründete Maschinenfabrik übernahm und daraus einen Weltkonzern machte. Škoda produzierte Dampfmaschinen, Fabrikanlagen, Eisenbahnzüge, später auch Rüstungsgüter; im Ersten Weltkrieg war dies die größte Waffenschmiede Österreich-Ungarns. Die Autofabrik, die den Namen weitertrug, kam erst 1925 dazu, heute operiert sie wieder getrennt unter der Regie des VW -Konzerns. Die eigentliche Škoda-Fabrik aber belegt in Pilsen noch immer ein ganzes Stadtviertel und stellt inzwischen auch Straßenbahnen und Atomkraftwerke her. Am 6. Juni 2008 wurde mit einem Stadtfest das hundertfünfzigjährige Bestehen des Unternehmens begangen.
    Pilsen war schon immer ein Ort der technischen Innovation. Hier wurde in Böhmen das erste Buch gedruckt, hier fuhr die erste Eisenbahn, hier wird auch heute modernste Technologie erprobt. Als Industriemetropole Westböhmens entfaltet die Stadt ihre Ausstrahlung bis nach Bayern hinein, wo Regensburg und Nürnberg von alters her bedeutende Handelspartner sind. Es braucht drum nicht zu verwundern, dass im Weichbild der Stadt der hundertzwei Meter hohe und spitze Turm des gotischen St.-Bartholomäus-Doms als Landmarke allenfalls von einem Industrieschornstein angefochten wird.
    Die Kirche dominiert einen der größten Marktplätze Europas, und hier sowie in den schachbrettartig sich anschließenden Seitengassen ist die historische Seele der Stadt zu finden. Wer tagsüber oder abends durch diese Gassen schlendert, gewinnt rasch das Gefühl, dass hier das menschliche Maß noch gilt. Fußgänger beherrschen den Platz, nicht
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